Kaspar Villiger feiert die Aargauische Industrie- und Handelskammer und sagt: «Unser Wohlstand ist nicht gottgegeben»
Noch keine Jahresversammlung der Aargauischen Industrie- und Handelskammer (AIHK) war so gut besucht wie diese: Über 650 Gäste aus Wirtschaft und Politik, alles was Rang und Namen hat, fanden sich im Trafo in Baden zur 150-Jahr-Feier ein und unterstrichen die Wertschätzung für die Arbeit des Verbands. «Ein neuer Rekord», wie Präsidentin Marianne Wildi in ihrer Ansprache hochhielt. Gut 2100 Unternehmen sind Mitglied bei der AIHK – darunter einige vom ersten Tag an.
1874 als Handelskammer gegründet, schloss sie sich 1976 mit dem Arbeitgeberverband zusammen. Wie die Gesellschaft habe sich auch der Verband weiterentwickelt. «Wir haben uns geöffnet und suchen heute öfter den Dialog», so Wildi. Alle Menschen seien auf die Wertschöpfung der Unternehmen angewiesen. Doch erfolgreich sei man nur, wenn man miteinander rede. Sie hob auch die Bedeutung der Berufslehre und des dualen Bildungssystems als Teil des wirtschaftlichen Erfolgsrezepts der Schweiz hervor. «Andere Länder haben Bodenschätze, wir haben Menschen mit Innovationskraft.»
Innovation gibt es demnächst auch am Sitz der AIHK in Aarau: Die Baubewilligungfür den geplanten Neubauwurde kürzlich erteilt. Mit den Arbeiten soll es nächstens losgehen, die Eröffnung ist in zwei Jahren geplant. Mit dem «Jahrhundertprojekt» werde «die Grundlage für unsere nächsten 150 Jahre in Stein gemeisselt». Marianne Wildi, dieseit März nicht mehr Chefin der Hypothekarbank Lenzburg ist, wurde an der Generalversammlung als AIHK-Präsidentin bestätigt. Weitere 17 Personen wurden wieder- und 11 neu in den Vorstand gewählt.
Branchen und Regionen seien im 29-köpfigen Gremium breit vertreten. Sie freute sich auch über die neuen Ehrenmitglieder: Otto H. Suhner, «eine Unternehmerlegende mit unermüdlichem Engagement, dazu noch Charme und Sinn für Humor», wie Marianne Wildi festhielt. Und Logistikunternehmer Hans-Jörg Bertschi, der sich bereits ein Vierteljahrhundert im Vorstand engagiert hatte und trotz etlicher Geschäftsreisen kaum je eine Sitzung verpasst habe.
Markus Dieth: «Die Politik braucht starke Partner wie die AIHK»
AIHK-Direktor Beat Bechtold hob hervor, wie der Verband sich für wirtschaftliche Bildung engagiert, mit Projekten in Primar- und Kantonsschulen. Er hielt zudem die Abstimmungsparolen für den 9. Juni fest: Ja zum Stromgesetz und Nein «zu den untauglichen Gesundheitsinitiativen». 2024 würden wichtige politische Weichenstellungen vorgenommen, sagte er.
In Zeiten einer sich rasend verändernden Welt «braucht die Politik starke Partner wie die AIHK mehr denn je», hob Regierungsrat Markus Dieth hervor. Schon bei der Gründung habe die Handelskammer den damals jungen Aargau mitgestaltet und zum erfolgreichen Wirtschaftskanton gemacht, der er heute ist. «Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es auch dem Kanton gut.» Als Dankeschön überbrachte er dem Verband 15 Flaschen Aargauer Staatswein. «150 wären ein wenig viel gewesen», scherzte er.
Kaspar Villiger plädiert für Stärkung der Armee
Höhepunkt des Abends war die Rede von Alt Bundesrat Kaspar Villiger, selbst ehemaliger Vizepräsident der AIHK und heute Ehrenmitglied. Der frühere Arbeitgeberverband habe damals sein Interesse an der Politik geweckt, erinnerte sich Villiger. Der Aargau habe schon damals eine grosse wirtschaftliche Kraft gezeigt, die aber national oft unterschätzt werde.
Ihn interessiere die Zukunft aber mehr als die Vergangenheit, sagte der Ex-Bundesrat. Die alte Weltordnung liege in Trümmern und eine neue sei noch nicht in Sicht. Dass wirtschaftliche Macht die militärische ersetzen könne, dass wirtschaftliche Verflechtungen Kriege zu verhindern vermögen, habe sich zuletzt als Illusion erwiesen.
Der Westen werde sich, so Kaspar Villiger, deshalb davon verabschieden müssen, seine Werte als globale Richtlinien durchzusetzen und den Fokus neu auf Selbsterhaltung zu legen. «Das wird Kraft und Geld brauchen.» Und es sei fraglich, ob «die Wohlstandsverwöhnten einen Wohlstandsverlust dafür in Kauf nehmen wollen».
Die Schweiz befinde sich auf einer Gratwanderung. Es werde schwieriger, auf verschiedenen Hochzeiten zu tanzen. Man müsse zwingend mit den befreundeten Ländern mehr kooperieren, die Neutralitätspolitik flexibler angehen und die «langjährig vernachlässigte Verteidigungsfähigkeit der Armee» wieder aufbauen. Dies durch mehr Investitionen, aber auch von der Armee sei «eine Effizienzsteigerung» zu erwarten.
Wirtschaftlich müsse die Schweiz zudem «den Abstieg ins europäische Mittelmass verhindern». Alles, was der Staat anbiete, müsse jemand zahlen – und dies sei undenkbar ohne die Unternehmen. «Offensichtlich halten viele unseren Wohlstand für gottgegeben», so Kaspar Villiger. Zwar würden die «Spitzensaläre für Versager» alle ärgern, meinte er zum Credit-Suisse-Debakel. «Aber das rechtfertigt es nicht, ein hervorragend funktionierendes Wirtschaftssystem schlechtzureden.» Die traditionelle Kompromisskultur der Schweiz müsse wieder mehr gelebt werden, hielt er zum Schluss fest.