Am Anfang war das Word: Wie Bürolisten Microsoft lieben und hassen lernten
Das Verhältnis, das man als durchschnittlicher Bürolist zu Microsoft Word hat, lässt sich mit einer etwas erodierten Ehe vergleichen: Der Zauber ist längst verflogen, aber die Bindung ist stark. Sie beruht auf Gewohnheiten, gegenseitiger Berechenbarkeit. Man hat sich über Jahre aneinander angepasst und kann sich eine Trennung nicht mehr vorstellen.
Das Programm und seine Nutzer der ersten Stunde feiern dieses Jahr bereits Rubinhochzeit. Vier Jahrzehnte ist es her, seit Microsoft seinen Welthit lancierte. «1.0 Word for MS-DOS» war damals eine Sensation. Erfindung der Schrift, des Buchdrucks, der Schreibmaschine – die Software fügte sich in diese Reihe ein, so beschränkt die erste Generation für heutige Augen aussehen mag.
Das Revolutionäre daran: Word folgte dem Wysiwyg-Ansatz (What you see is what you get), wie ihn das Programm Bravo 1974 erstmals umgesetzt hatte. Das Akronym steht für das Prinzip der Unmittelbarkeit, dass jede Bearbeitung eines Textes sofort angezeigt wird. Heute findet man es als scherzhafte Botschaft im Schritt von einigen Männerjeans wieder.
Als das Textverarbeitungsprogramm Word auf den Markt kam, wehte schon der Pioniergeist der Informatik. Der PC – der damals meistens noch als Personal Computer bezeichnet wurde – kam allmählich in den Haushalten an. Im Westdeutschen Rundfunk lief der WDR Computerclub mit Wolfgang Back und Wolfgang Rudolf. Apple stellte Lisa vor, einen der ersten PCs mit einem grafischen Benutzerinterface. Und das Netzwerkprotokoll IPv4 wurde eingeführt, ein Meilenstein in der Entwicklung des Internets.
Die verhasste Büroklammer
Wie aber kommt es, dass sich dieses Programm 40 Jahre lang halten konnte? Microsoft fokussierte in der Bedienung auf Niederschwelligkeit und setzte bei der Entwicklung auf Kontinuität und Konstanz – also bewusst auf kleine Schritte. Es ist die Strategie einer Epoche, als Technologie noch nicht mit Disruption gleichgesetzt wurde. Success, also Erfolg, noch auf lateinisch succedere verwies: nachfolgen.
Wenig sticht in der linearen Geschichte von Word heraus. In Erinnerung ist das Jahr 1992 als Funktionen wie Drag-and-drop und die Werkzeugleiste debütierten. Microsoft bewarb die Neuheiten in einem TV Spot mit dem Versprechen: «It takes you just one click, to make your work look twice as good» (ein Klick genügt, um die Arbeit doppelt so gut aussehen zu lassen). Dazu blickte man in ein Büro, in dem die Menschen glücklich lachend vor ihrem Computer sitzen.
Die Realität wird schon damals anders ausgesehen haben. Definitiv vergangen ist das Lachen den Nutzerinnen und Nutzern fünf Jahre später, als die Büroklammer Clippy 1997 auf der Bildfläche erschien. Der animierte Helfer war mit seiner Penetranz und forcierten Niedlichkeit vielen zuwider und wurde vom «Time Magazine» 2010 zu einer der 50 schlechtesten Erfindungen der Geschichte erklärt – da war er schon längst fallen gelassen worden.
Offenbar war sich das Management bereits vor der Lancierung uneins ob der glubschäugigen Büroklammer. Eine Fokusgruppe hatte nämlich in Vorabtests gemischte Feedbacks zum Assistenten geliefert. «Die meisten Frauen waren der Meinung, die Figur sei zu männlich und würde sie anglotzen», erinnerte sich die frühere Microsoft-Managerin Roz Ho in US-Medien. Das in der Mehrheit männliche Führungsteam habe trotzdem beschlossen, mit Clippy weiterzumachen.
Blaupause für Techkonzerne
Schicksalsdatum ist aber das Jahr 1989, als Microsoft seine Textverarbeitung erstmals gebündelt als Microsoft Office verkaufte. Mit im Paket waren die Tabellenkalkulation Excel, die Präsentationssoftware Powerpoint sowie Microsoft Mail. Das erste Office war ausschliesslich für den Apple Macintosh erhältlich, den ersten in grosser Zahl produzierten Heimcomputer mit einer grafischen Benutzeroberfläche. Später sollte Microsoft Office mehr und mehr mit PCs assoziiert werden, welche die Macintoshs in den Neunzigerjahren im Volumen überholten – und Microsoft zum Konkurrenten von Apple machten.
Die Integration der Büroprogramme sowie die Verknüpfung mit dem Betriebssystem Windows legte den Grundstein für den langfristigen Erfolg von Microsoft im Allgemeinen und Word im Besonderen. Kritiker brandmarkten diese Strategie als Monopol. Drittanbieter würden durch die beherrschende Stellung des Unternehmens aus Redmond vom Markt de facto ausgeschlossen. Microsoft-Gründer Bill Gates galt eine Weile als Buhmann, vor allem, als seine Programme noch zum Absturz tendierten. Tatsächlich schuf Gates aber die Blaupause für Techunternehmen des nächsten Jahrhunderts.
Konkurrenz erwuchs Microsoft und Word von verschiedener Seite. 2002 lancierte Sun Microsystems Open Office, ein Opensource-Software-Paket, das sich in seinen Funktionen ungeniert an Microsoft anlehnte. Grösster Widersacher ist aber der Suchmaschinendienst Google, der mit Google Docs seit 2006 webbasierte und kostenlose Textverarbeitung anbietet sowie weitere Büro-Apps. Microsoft reagierte 2010 mit einer ebenfalls webbasierten Version einzelner Office-Produkte. Mit Microsoft 365 baute das Unternehmen seine Strategie der integralen Versorgung aus.
Zeitenwende
Lag der Fokus von Word 40 Jahre lang auf der Textformatierung und den Schnittstellen zu anderen Programmen, rückt nun vermehrt der Text selbst ins Zentrum. Assistenzprogramme korrigieren heute nicht nur Rechtschreibung und Syntax, sondern prüfen auch Verständlichkeit, erkennen Plagiate und verbessern den Stil. Das vielleicht bekannteste dieser Programme heisst Grammarly und wird auch als Add-in für Word angeboten.
Die Integration von auf Künstlicher Intelligenz basierten Anwendungen wird die Bürosoftware in den kommenden Jahren weiterentwickeln. So hat sich Microsoft bei Open AI, der Betreiberfirma von ChatGPT eingekauft und plant, den Chatbot nach der Suchmaschine Bing und dem Browser Edge auch in Word, Powerpoint, Outlook und weiteren Anwendungen einzubauen. Nach 40 Jahren dürfte die Ehe mit dem Textverarbeitungsprogramm wieder Fahrt aufnehmen.