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«Anora» ist der grosse Sieger bei der Oscarverleihung – und Hollywood hält sich politisch auffallend zurück
In der Nacht von Sonntag, 2. März auf Montag 3. März (MEZ) wurden die Academy Awards, besser bekannt als die Oscars, verliehen. Wer räumte bei der 97. Ausgabe ab, wer musste sich trösten lassen? Wer bot das beste Meme-Material, wessen Rede uferte au? Und war alles business as usual – oder wurde es diesmal ernsthaft politisch?
Was gab zu reden?
Es sind bewegte Zeiten, alte Ordnungen wanken: Jüngst am Freitag beim Eklat im Weissen Haus, als Donald Trump den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski vor den Augen der Öffentlichkeit düpierte. In Los Angeles, wo die Oscars im Dolby Theatre verliehen werden, hatten vor einem Monat Waldbrände verheerende Zerstörungen angerichtet. Und dann wurde in der Zwischenzeit noch James Bonds Lizenz zum Töten an Amazon verkauft. Wie reagierte Hollywood, in der Nacht des Jahres?
Zuerst mit einer Liebesklärung an die Stadt der Engel, Heimat der Traumfabrik: «There Is No Place Like Home» heisst es im «Wizard of Oz», einem klassischen Ur-Film Hollywoods. Dessen Vorgeschichte erzählt der zehnfach nominierte erste Teil von «Wicked». Die Darstellerinnen Ariana Grande und Cynthia Erivo traten im Duett auf, ein würdiger Einstieg. Aber auch danach folgte kein Grossangriff auf die Trump-Administration, den man vielleicht hätte erwarten können.
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Chris Pizzello / AP
Eigentlich hatte Moderator Conan O’Brien in einem Song, auf dem ein Sandwurm aus «Dune» Piano spielte, angekündigt, unter seiner Regie werde keine Zeit verschwendet. Nun ja. Zudem wurde mit Aufregung gegeizt. Die Gala geriet gefühlt länger als die beiden «Wicked»-Teile zusammen – und mindestens so tränenreich. «Wenn Sie die Show immer noch geniessen, leiden sie am Stockholm-Syndrom», frotzelte O’Brien nach über drei Stunden. Oder Sie sind eben mondsüchtiger Journalist.
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Allison Dinner / EPA
Ungeachtet all der ewigen Danksagungen und Werbepausen blieb sogar Zeit für ein ausführliches, tonal nicht immer treffsicheres Bond-Medley von Raye, Doja Cat und K-Pop-Sängerin Lisa. Beste Jeff-Bezos-Werbung, allerdings ohne die Verkündung des neuen 007-Darstellers.
Gröbere Skandale oder Missgriffe blieben aus. Erwartbar hantierten die israelisch-palästinensischen Gewinner des Oscars für den Besten Dokumentarfilm («No Other Land») einmal mehr mit dem Schlagwort «Ethnische Säuberung», bezogen auf Israel. Während sie zugleich für ein Verständnis beider Seiten plädierten. Ein (zeit)geistiger Spagat, der nur noch schal klingt.
Andere Anspielungen auf aktuelle Konflikte musste man mit der Lupe suchen, so nebenbei passierten sie: Peter Straughan (Oscar bestes Drehbuch für «Conclave») trug eine Schleife in den Ukraine-Farben Blau-Gelb. Daryl Hannah, oft sehr aktivistisch unterwegs, rief immerhin mit Victory-Zeichen ein beherztes «Slava Ukraini»! Und sehr indirekt spielte ein von Joggingklamotten umschlabberter Adam Sandler auf den Eklat um Selenskis Uniform beim Staatsbesuch an.
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Allison Dinner / EPA
Wer waren die Gewinner?
Ein enges Rennen war im Vorfeld prognostiziert worden, fast wie bei der Papstwahl in Edward Bergers Thriller «Conclave». Am Ende setzte sich dabei Sean Baker auf den Thron mit fünf Oscars für «Anora», seinem Cinderella-Märchenupdate um eine Sexarbeiterin, die einen unreifen Oligarchenbubi heiratet. Vier der Statuen durfte Baker auf der Bühne persönlich entgegennehmen: Für das Drehbuch, den Schnitt, die Regie und den besten Film.
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Jordan Strauss / AP
Vermutlich die grösste Überraschung des Abends: Hauptdarstellerin Mikey Madison stach die hochgehandelte Demi Moore («The Substance») aus, für die ein Gewinn das Comeback das Jahres markiert hätte. Der Rest der Oscars verteilte sich nach dem Giesskannenprinzip: «The Brutalist» erhielt immerhin drei Goldjungen, «Wicked» zwei, «Dune: Part 2» ebenfalls zwei. Als bester internationale Film wurde «I’m Still Here» des brasilianischen Regisseurs Walter Salles gewürdigt. Den Oscar als bester männlicher Nebendarsteller gewann wie erwartet Kieran Culkin («A Real Pain»), der daraufhin vor Freude ein viertes Kind mit seiner Frau zeugen wollte.
Und wer ging leer aus?
Ein klarer Verlierer dieser Nacht: «Emilia Pérez». Das kam nicht unerwartet. Zwar hatte das Musical über einen mexikanischen Kartellboss, der aussteigen und als Frau leben will, satte 13 Nominierungen erhalten; so viele wie noch keine Nicht-englischsprachige Produktion zuvor.
Aber bald waren die Aktien gesunken, häuften sich die Skandale: Mexiko beklagte die klischeehafte Darstellung des Landes, in dem der Regisseur Jacques Audiard nicht einmal gedreht hatte. Die Trans-Community war ebenfalls wenig begeistert. Und schliesslich schickten alte Tweets der transsexuellen Hauptdarstellerin Karla Sofía Gascón, die über Religion und die Oscars hergezogen hatte, den Favoriten weitgehend ins Abseits.
Am Ende blieben immerhin zwei Oscars für «Emilia Pérez»: Der für den besten Song («El Mal») und den für die beste Nebenrolle, den Zoë Saldaña tränenüberströmt entgegennahmen. Das Bob-Dylan-Biopic «Like A Complete Unknown» mit acht Nominationen, darunter für Timothée Chalamet, ging leer aus.
Die Schweiz hatte ebenfalls kein grosses Glück: Für Tim Fehlbaums Olympia-Medienthriller «September 5», nominiert für das beste Originaldrehbuch, hiess es leider ebenfalls: Dabeisein ist alles.
Wie schlug sich der Moderator?
Im vergangenen Jahr blieb Host Jimmy Kimmel etwas blass. Sein Nachfolger Conan O’Brien ist vor allem für Late-Night Shows bekannt, die Oscars moderierte er zum ersten Mal. Nachdem er zum Einstieg quasi aus dem Körper von Demi Moore geschlüpft war (eine Anspielung auf «The Substance») drehte er auf, mit ein paar schönen Spitzen gegen nominierte Filme. Und gleichfalls mit einer ordentlichen Portion Selbstironie. Zum Beispiel:
«‹A Complete Unknow›, ‹A Real Pain›, ‹Nosferatu › – das waren nur ein paar der Spitznamen für mich am roten Teppich.» Oder: «Wir nutzen hier keine K.I., sondern Kinderarbeit». Zu der zwar anwesenden, doch tunlichst von der Bühne ferngehaltenen Karla Sofía Gascón meinte O’Brien: «Falls Du über die Oscar twitterst, mein Name ist Jimmy Kimmel!» Und über den Siegerfilm «Anora» sagte er: «Amerikaner sind begeistert, wenn sich mal jemand traut, einem mächtigen Russen die Stirn zu bieten!»
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Chris Pizzello / AP
Doch auch den ernsten Ton traf der Moderator, als er die Oscars als Gemeinschaftsevent beschwor. Film könne vereinen, mache viele Leuten hinter den Kulissen sichtbar. Trotz der prekären Weltlage gehe die Arbeit weiter, die Magie des Films werde bleiben. So durfte als Symbol für diese einige Erdung mit den normalen Leuten die Feuerbrigade von L.A auf die Bühne und ein paar Witzchen vom Teleprompter ablesen. Die Oscars wollten Einigkeit und Leichtigkeit im Angesichts der Krise beweisen.
Was lief auf Social Media?
22 Jahre lang hatte Halle Berry Rache geschworen: Für den Kuss, den ihr Adrien Brody 2003 völlig überraschend und deplatziert spontan aufdrückt hatte. Damals gewann er mit 29 Jahren für «The Pianist» seinen ersten Oscar. Nun küsste Berry ihn am Roten Teppich zurück.
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Screenshot Instagram
Und Brody selbst küsste diesmal bei der Bekanntgabe seines Oscars für die beste Hauptrolle in The «Brutalist» seine Partnerin und warf ihr seinen Kaugummi zu, ehe er die womöglich längste Dankesrede der Oscar-Geschichte hielt.
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Screenshot
Das sind alle Siegerfilme
Bester Film:«Anora»
Beste Regie:Sean Baker («Anora»)
Beste Hauptdarstellerin:Mikey Madison («Anora»)
Bester Hauptdarsteller:Adrien Brody («The Brutalist»)
Beste Nebendarstellerin:Zoë Saldaña («Emilia Pérez»)
Bester Nebendarsteller:Kieran Culkin («A Real Pain»)
Bestes Originaldrehbuch:Sean Baker («Anora»)
Bestes adaptiertes Drehbuch:Peter Straughan («Conclave»)
Bester internationaler Film:«I’m Still Here» (Walter Salles)
Beste Kamera:Lol Crawley («The Brutalist»)
Bester Animationsfilm:«Flow» (Gints Zilbalodis)
Bester Dokumentarfilm:«No Other Land» (Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor)
Bester Dokumentar-Kurzfilm:«The Only Girl in the Orchestra» (Molly O’Brien, Lisa Remington)
Beste Filmmusik:Daniel Blumberg («The Brutalist»)
Bester Song:«El Mal» aus «Emilia Pérez» (gesungen von Zoë Saldaña)
Bester Schnitt:«Anora» (Sean Baker)
Bester Ton:«Dune: Part 2» (Gareth John, Richard King, Ron Bartlett, Doug Hemphill)
Beste visuelle Effekte:«Dune: Part 2» (Paul Lambert, Stephen James, Rhys Salcombe, Gerd Nefzer)
Bestes Szenenbild:«Wicked» (Nathan Crowley, Lee Sandales)
Bestes Kostümdesign:«Wicked» (Paul Tazewell)
Bestes Make-up und beste Frisuren: «The Substance» (Pierre-Olivier Persin, Stéphanie Guillon, Marilyne Scarselli)
Bester Kurzfilm:«I’m Not a Robot» (Victoria Warmerdam)
Bester animierter Kurzfilm:«In the Shadow of the Cypress» (Hossein Molayemi und Shirin Sohani)