Stephan Attigers Weihnachtswunsch: Er will endlich wissen, wer für die Sicherung der Stromversorgung verantwortlich ist
Der Grossaufmarsch Interessierter an der jüngsten Rheinfelder Tagung der Aargauer FDP zeigt: mit der Fragestellung «Stromversorgungssicherheit – Stehen wir bereits vor der nächsten Krise?» trafen die Organisatoren einen sehr aktuellen, wunden Punkt.
Denn jüngste, warnende Berichte aus Bern zur Sicherheit der künftigen Stromversorgung schrecken auf. Die Aussicht, dass es nach dem Scheitern des Rahmenabkommens auch kein Stromabkommen mit der EU gibt, akzentuiert das Problem. Das zeigt sich auch daran, dass der Aargauer Landammann und Energiedirektor Stephan Attiger «in den letzten drei Wochen zu diesem Thema mehr Anfragen bekommen hat als in den Jahren davor», wie er sagte.
«Jedes Jahr, in dem KKW noch laufen, hilft beim Zubau von erneuerbaren Energieträgern»
Zwar sinke der Stromverbrauch pro Kopf nach dem vorgegebenen Pfad. Diese Ersparnis werde aber zum grossen Teil durch das Bevölkerungswachstum «wieder aufgefressen». Die Frage sei: «Haben wir im Winterhalbjahr genug Strom? Jedes Jahr, in dem wir Kernenergie noch sicher nutzen können, hilft uns beim Zubau der erneuerbaren Energieträger.» Gerade wenn man sie zehn Jahre länger sicher laufen lassen könne.
Es braucht 4000 der grössten Solaranlagen, um das AKW Leibstadt zu ersetzen
Um das kommende Problem zu veranschaulichen, verwies Attiger auf das AKW Leibstadt. Dieses hat eine Jahresproduktion von 9600 Gigawattstunden (GWh). Für die grösste Fotovoltaik-Anlage bei Holcim in Siggenthal auf 12’700 Quadratmetern erwarte man 2,3 GWh. Attiger: «Es braucht 4000 solche Anlagen, um das AKW Leibstadt zu ersetzen.» Wobei noch zu klären wäre, wie man den vorab im Sommer anfallenden Strom für den Winter speichern könnte.WERBUNG
Ein grosser Speicher wie das Pumpspeicherkraftwerk Linth-Limmern im Glarnerland bringe eine Leistung nahe dem AKW Leibstadt, «aber nach 34 Stunden Volllast-Produktion ist der See leer». Es sei nicht realistisch, damit die Winterstromlücke zu schliessen, auch nicht mit zwei, drei zusätzlichen solchen Kraftwerken: «Wenn jedes zweite Dach aller Liegenschaften mit einer PV-Anlage versehen würde, würden wir es wahrscheinlich schaffen, das braucht aber einen Rieseneffort».
«Macht ein Gasabkommen, bevor Ihr Gaskraftwerke baut!»
Ob man die kommende Lücke in einer Übergangsphase mit Gaskraftwerken füllen könne? Der Aargau wäre prädestiniert, weil hier die Netze sind, so Attiger. Und zuhanden der Politik in Bern: «Aber macht ein Gasabkommen, bevor ihr solche baut.» Auf Nachfrage von Moderatorin und FDP-Grossrätin Jeanine Glarner sagte er, prioritär sei, den Verbrauch zu senken, die Effizienz zu erhöhen, Erneuerbare auszubauen. Und der Aargauer Energiedirektor hofft auch immer noch auf Geothermie.
Attiger sagte weiter, wenn man die Dekarbonisierung ein Stück weit zustande bringe, und im Winter für drei Monate ein Gaskombikraftwerk brauche, sei die Nettobilanz immer noch besser als ohne Dekarbonisierung. Insofern müsse man dies anschauen. Wenn am Schluss die Gesamtbilanz besser sei – dazu gehöre auch Biogas – könnte es aufgehen, dann könne Gas eine Übergangstechnologie sein.
Attiger hat einen ganz grossen Weihnachtswunsch. Die Frage, wer jetzt für die Versorgungssicherheit verantwortlich sei, habe er sicher schon 500-mal gestellt: «Es wäre cool, darauf eine Antwort zu bekommen.»
Das grösste Risiko: eine ausgedehnte Strommangellage
Jörg Spicker von Swissgrid erhob den Mahnfinger. Szenarien zeigten, dass die Schweiz nach dem Abschalten der Atomkraftwerke (wenn Leibstadt als letztes 2034 vom Netz ginge) jährlich 14 bis 15 Terawattstunden (TWh) Strom importieren müsste. 4 – 5 TWh könne das Netz gut verkraften, bei 10 sei es aber am Limit. Spicker eindringlich: «Netz- und Versorgungssicherheit sind ohne Stromabkommen gefährdet. Weitermachen wie bisher können wir uns nicht leisten, wir brauchen das Abkommen ultimativ.»
Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder hat die aktuelle Energiedebatte mitinitiiert. «Wir können uns hier keine ideologischen Scheuklappen leisten», rief er in den Saal. Wenn er sage, der Ausstieg aus der Kernkraft sei falsch, denke er nicht daran, morgen ein neues Gösgen aufzustellen, aber: «Wir dürfen für die Zukunft keine Optionen ausschliessen.» Technologieverbote seien immer eine schlechte Idee.
Jauslin: «Das Stromabkommen haben wir verspielt»
Im von Grossrätin Jeanine Glarner geleiteten anschliessenden Podium wurde nicht weniger gewarnt. FDP-Nationalrat Matthias Jauslin verteidigte indes das Parlament: «Es schläft nicht, aber es muss Energie-, Klima- und Standortpolitik unter einen Hut bringen, das ist die Schwierigkeit.» Er sieht das Scheitern des EU-Rahmenabkommens als Fehler: «Es wäre wichtig gewesen für das Stromabkommen.» Letzteres habe man «verspielt». Jetzt müsse man versuchen, mit umliegenden Staaten direkt den Zugang zu sichern.
Sehr ernüchtert zeigte sich FDP-Grossrat Bernhard Scholl: «Wir haben zehn Jahre geschlafen. Dass die Stromlücke kommt, wusste man damals schon. Das Gasthema stand immer schon an der Hintertüre. Haben wir ein Gasabkommen? Nichts ist passiert.»
In der Diskussion warnte auch der frühere Axpo-Vizeverwaltungsratspräsident Ruedi Hug, man gehe «dunklen Zeiten entgegen». Fotovoltaik habe eine hohe Akzeptanz, «aber nachts scheint keine Sonne, und im Winter haben wir nur einen Teil der Energie vom Sommer.» Fotovoltaik löse das Problem nicht. Es bräuchte – als rein rechnerisches Denkbeispiel – 10 000 der aktuell grössten Anlage im Aargau, um alle KKW energiemässig zu ersetzen. Hug: «Dann müssen wir jede Woche zehn solche Anlagen bauen, und nach 20 Jahren von vorn beginnen, weil dann deren Lebensdauer erreicht ist.»
Einig war man sich, dass bezüglich Stromversorgungssicherheit dringend jemand den Lead übernehmen müsse. Für Attiger und Mäder muss dieser beim Bund liegen. Einig war man sich auch, dass die Verfahren beschleunigt werden müssen.