Im Schlaf sehen wir die verrücktesten Filme: Warum wir träumen, was wir träumen
Warum träumen wir überhaupt?
Ganz eindeutig geklärt ist das nicht. «Schlaf ist ein komplexer Zustand», sagt Dagmar Schmid, Leitende Ärztin am Zentrum für Schlafmedizin des Kantonsspitals St.Gallen. Es gebe unterschiedliche Theorien, die erforscht würden. So könnten Träume ein nötiger Mechanismus für die Programmierung unserer Hirnzellen sein: Sie helfen dabei, Informationen zu verarbeiten und die Ereignisse des Tages abzuspeichern. Eine ähnliche Theorie besagt, dass es vor allem um das Verarbeiten von Gefühlen geht.
Eher neuer ist die Theorie, dass wir im Schlaf gefährliche Situationen trainieren, die uns im echten Leben vielleicht einmal blühen. Einzelne Wissenschafter sehen in Träumen aber auch einfach ein Zufallsprodukt des Schlafes.
Dass es beim Träumen vor allem ums Verarbeiten geht, legt eine oft beobachtete Entwicklung während der Coronapandemie nahe. Viele Menschen berichten, dass sie seit dem Ausbruch der Pandemie ausgefallener träumen. Wer viel Neues zu verarbeiten hat, scheint intensiver zu träumen. Doch es könnte für diese Corona-Entwicklung auch einen anderen Grund geben.
Was ist dieser andere Grund für ausgefallene Coronaträume?
Die Zeit, die wir im Bett verbringen. Viele Menschen arbeiteten zwischenzeitlich von zu Hause aus oder tun das noch immer. Wer nicht pendeln muss, kann meist länger schlafen. Und wer mehr schläft, hat mehr Zeit, um zu träumen. Damit steigt die Chance, dass man sich auch an einen Traum erinnert.
Man erinnert sich also nicht an jeden Traum?
Nein. Auch wenn Menschen behaupten, sie würden nie träumen, sagt Schmid: «Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch jede Nacht träumt.» Man erinnere sich einfach nicht immer an die Träume der Nacht.
Was macht den Unterschied, ob sich jemand an einen Traum erinnert?
Einen Grund haben wir schon kennen gelernt: die Schlafdauer. Sie erhöht nicht einfach nur die Chance, dass wir uns erinnern, weil es mehr gibt, woran wir uns erinnern können. Das hat auch mit der sogenannten REM-Phase zu tun. Die Abkürzung steht für Rapid Eye Movement.
Rapid Eye Movement (REM)? Unsere Augen sind doch geschlossen?
Ja, aber hinter den Lidern bewegen sie sich trotzdem. Die REM-Phase bezeichnet jene Schlafphase, in der sie das stark tun. In diesen Abschnitten ist unser Gehirn fast so aktiv wie im Wachzustand, hier entsteht gewissermassen der Stoff unserer Träume.
Diese Phasen gibt es zwar die ganze Nacht über, aber gegen Morgen werden sie tendenziell länger, weil sich unser Körper auf das Aufwachen vorbereitet. Wenn wir in einer solchen Phase oder kurz danach aufwachen, können wir uns eher an den Traum erinnern. Das ist übrigens auch der Grund, warum man einen Albtraum so klar vor sich hat, wenn man aus einem aufschreckt.
Wissenschaftlich zusammengefasst wird das im Arousal-Retrieval-Modell. Schmid vom Zentrum für Schlafmedizin nennt die zwei wichtigen Schritte bei der Traumerinnerung, die dieses Modell beschreibt: «Erstens muss man nach der Traumerfahrung wach sein, damit sie im Gedächtnis gespeichert werden kann, und zweitens muss der Aufwachprozess möglichst wenige Störungen und der Traum eine gewisse Wichtigkeit aufweisen, damit er erinnert wird.»
Also kommt es darauf an, wann ich aufwache?
Auch, aber es gibt einen weiteren Grund: Wer tief schläft, erinnert sich eher weniger an Träume. Wer nachts immer mal wieder aufwacht – das kann passieren, ohne dass man das wirklich realisiert –, gibt seinem Gehirn gewissermassen die Möglichkeit, den Traum auf die Festplatte zu schreiben. Das Erinnern fällt dann leichter.
Warum Menschen tiefer schlafen oder nicht, ist übrigens nicht ganz klar. Es könnte sein, dass gewisse Menschen eher auf Reize wie zum Beispiel Geräusche reagieren.
Gibt es weitere Gründe, warum wir uns besser oder schlechter erinnern?
Schmid nennt weitere Faktoren: «Kreativität und Fantasietätigkeit im Wachzustand gehen mit einer höherer Traumerinnerung einher.» Zudem gebe es einen Geschlechtereffekt: «Frauen geben eher eine höhere Traumerinnerung an als Männer.»
Kann ich selber etwas tun, damit ich mich eher an meine Träume erinnere?
Ja, das geht. Viele Informationen gehen in der Phase des Aufwachens verloren. Um das zu unterbinden, sollte man den Traum gleich nach dem Aufwachen noch einmal durchgehen und sich dabei auch an Einzelheiten wie Gefühle oder Gerüche erinnern. Noch besser: sofort möglichst detailliert niederschreiben. Ein solches Tagebuch kann übrigens auch dabei helfen, die eigenen Träume zu deuten.
Träume deuten? Was wir träumen, hat also einen Grund?
Ja und nein. Nicht jede Einzelheit hat einen tieferen Sinn. Und auf Grundlage eines einzelnen Traums sollte man auch keine Schlüsse ziehen oder gar Prognosen darin vermuten. «Hilfreich kann hingegen sein, die Themen und Bilder in den realen Kontext zu stellen und so eventuell Parallelen besser zu erkennen und zu verstehen», sagt Schmid.
Vereinfacht ausgedrückt: Unser Alltag dürfte einen Einfluss darauf haben, was wir träumen. Deshalb könnten wiederkehrende Muster in Verbindung zum Alltag durchaus Erkenntnisse bergen, was uns beispielsweise gerade stark beschäftigt. Um diese Muster zu erkennen, kann das erwähnte Tagebuch hilfreich sein.
Sollte man wiederkehrende Albträume haben, kann man einen Schritt weitergehen und aus dem Traumtagebuch eine Art Drehbuch machen. Der beängstigenden Szene hängt man einfach einen guten Ausgang an und versucht, sich diesen zu verinnerlichen. Die Leitende Ärztin Schmid sagt zudem: «Wenn Albträume regelmässig vorkommen und die betroffene Person belasten, dann ist eine psychotherapeutische Behandlung angezeigt und in den meisten Fällen sehr wirksam.»
Von Traumlexika oder dergleichen, in denen gewissen Elementen, Tieren oder Personen fixe Erklärungen zugeordnet werden, halten die Schlafmedizinerinnen und Schlafmediziner wenig. «Die Traumdeutung ist die Domäne der Psychoanalytiker», sagt Schmid.
Gibt es wirklich Menschen, die ihre Träume steuern können?
Ja, die gibt es. Und die meisten Forscherinnen und Forscher sind sich einig, dass das grundsätzlich alle lernen können. Immer wieder genannt wird der sogenannte Reality-Check. Tagsüber schaut man sich immer wieder um, ob das alles real ist. Je bewusster man das im Wachzustand macht, desto eher macht man es auch mal im Traum und realisiert dann eben, dass nicht alles real ist. Dann hat man die Chance, den Traum selber zu gestalten, auch wenn das nicht immer klappen wird. Schmid vom Kantonsspital relativiert aber: «Dieses luzide Träumen kann auftreten, kann auch ‹trainiert› werden, ist jedoch relativ selten.»