Milliarden-Deal: Der Traum von ambulanten Pauschalen könnte platzen
Der Streit um einen neuen Ärztetarif ist um ein Kapitel reicher. Oder besser gesagt: um einen Rückschlag. Der Verband der Chirurginnen und Chirurgen lehnt die neu entwickelten ambulanten Pauschalen ab. Damit wendet sich ein wichtiger Partner überraschend vom Tarif-Projekt ab. Ein Projekt, das er bis anhin unterstützt hat. Das hinterlässt einen fahlen Geschmack: Sind die Pauschalen noch zu wenig ausgereift?
Jedenfalls wird die Zeit knapp, um die zerbrochene Partnerschaft wieder zu kitten. Die Frist zur Einreichung der Pauschalen läuft im Januar ab. Sie sollen den aktuellen Ärztetarif Tarmed ablösen. Dieser gilt als veraltet, weil er nie an technische und medizinische Entwicklungen angepasst wurde. Die Leistungen sind deswegen entweder zu hoch oder zu tief bewertet. Der Lohn der Ärztinnen stimmt nicht mehr.
Verteilkampf unter den Ärzten: Welche Fachgesellschaft hat das Einsehen?
Seit zehn Jahren wird an einem neuen Tarif gewerkelt. 2019 reichten die Ärztevereinigung FMH und der Krankenkassenverband Curafutura ein neues Tarifwerk Tardoc ein. Kaum jemand vertraute darauf, dass sich die Verbände je einig würden. Denn der neue Tarif muss gemäss Vorgaben des Bundesrats kostenneutral umgesetzt werden. Das bedeutet in der Praxis: Wenn ein Kinderarzt mehr für seine Leistungen erhält, muss die Radiologin auf einen Teil ihres Einkommens verzichten.
Es geht um viel Geld. 2019 rechneten Arztpraxen über 7,3 Milliarden Franken über den Tarif ab, bei Spitalambulatorien waren es 4,1 Milliarden. Bei einem jährlichen Kostenwachstum von gegen fünf Prozent übersteigen die Ausgaben die 12-Milliarden-Franken-Grenze längst.
Forcierte Einigung wegen bundesrätlicher Eingriffe
Weil die Verbände sich lange nicht finden konnten, erhöhte der Bundesrat den Druck, er griff eigenmächtig in den veralteten Tarif ein. Das verärgerte zwar die Ärzte, bewirkte aber einiges: Sie rauften sich zusammen. Nach mehreren Rückschlägen und Nachbesserungen steht der Tardoc heute zur Umsetzung bereit.
Doch der Bundesrat wartet mit dem Absegnen des Tarifs weiter zu. Diesen Sommer hat das Parlament entschieden, dass im ambulanten Bereich überall dort Pauschalen eingeführt werden sollen, wo dies möglich ist. Denn sie förderten Transparenz und Effizienz.
Die ambulanten Pauschalen: Weder sinnvoll, noch wirtschaftlich und anwendbar?
Damit öffnete sich ein Türchen für das Konkurrenz-Projekt: Der Spitalverband Hplus arbeitet zusammen mit dem Versicherungsverband Santésuisse unter Hochdruck an den Pauschalen. Teil des Pauschalen-Projekts «solutions tarifaires suisses» war auch der Verband der Chirurginnen und Chirurgen (FMCH). Am Dienstagmorgen verkündete dieser überraschend, sich gegen die Einreichung der Pauschalen beim Bundesrat entschieden zu haben. Der Anspruch sei klar, sagt Herzchirurg und Verbandspräsident Michele Genoni: «Ambulante Pauschalen müssen logischerweise für alle Ärztinnen und Ärzte, die ambulant behandeln, sinnvoll, wirtschaftlich und anwendbar sein.» Das pauschale Tarifwerk der «solutions tarifaires suisses» erfülle alle diese Anforderungen nicht.
Chirurgen fühlen sich zu wenig in die Entwicklung eingebunden
Seitens der Partner fehlte zudem ein klares Bekenntnis, die Fragen der FMCH «partnerschaftlich» zu klären und Fehler zu korrigieren. Die Chirurgen fühlen sich übergangen.
Vordergründig mag der Bruch überraschen. Der Grund liegt in der Entwicklung der Pauschalen. Sie stützen sich alleine auf Daten: Rund 450’000 Datensätze aus den Spitälern liefern die Grundlage. Doch halten die Berechnungen nicht jedem Realitätscheck stand: So kostet ein Ultraschall bei Schwangeren rund drei Mal mehr, wenn er über die neu ausgearbeiteten Pauschalen abgerechnet wird, als über den Tardoc.
Den rund 9000 Chirurgen wurden von Seiten der Partner knapp zwei Wochen eingeräumt, um die fixfertigen Pauschalen abzunicken. Doch die Unzufriedenheit ist verbreitet. Das hängt auch mit der eingangs erwähnten Vorgabe der Kostenneutralität zusammen: Die Spitäler haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie die Unterdeckung im ambulanten Bereich ausgleichen wollen. Das bedeutet: Mehr Geld fliesst an die Spitäler, weniger an die frei praktizierenden Ärzte.
Für die Entwickler der Pauschalen war indes stets klar: Änderungen werden nur akzeptiert, wenn sie mit Daten belegt werden können. Anträge aufgrund normativer Einschätzungen oder persönlicher Expertise würden abgelehnt. Auch das stösst bei den Chirurginnen auf Unverständnis.
Gemäss FMCH waren die inhaltlichen wie formalen Mängel so zahlreich und so schwerwiegend, dass sich die Delegierten noch vor Ende der Vernehmlassung entschieden haben, die Pauschalen in dieser Ausgestaltung nicht mitzutragen.
Entscheidend ist letztlich: Was will der Bundesrat?
Die Partner der «solutions tarifaires suisses» nehmen es gelassen. Santésuisse gibt an, den Fahrplan weiterzuverfolgen und die Pauschalen bis Ende Jahr dem Bundesrat zu überreichen.
Die Spaltung der Verbände ist dennoch kein gutes Omen: Soll ein neuer Tarif tatsächlich gegen den Willen der Ärzte oder der Spitäler in Kraft treten? Der Bundesrat verlangt, dass sich die Streithähne versöhnen: Der Tardoc müsse «von allen Tarifpartnern gemeinsam umfassend überarbeitet» werden und er müsse auch mit den ambulanten Pauschalen abgeglichen werden. Das schreibt er jedenfalls als Antwort auf eine Anfrage von Nationalrätin Martina Bircher (SVP).