Freie Schulwahl nach 175 Jahren? Das sagt der Aargauer Regierungsrat
Besucht ein Kind eine öffentliche Schule, so tut es das in der Regel dort, wo es wohnt. Geht es nach dem Regierungsrat, soll das auch so bleiben. Er ist überzeugt davon, dass die Volksschule und damit die Schulpflicht am Wohnort oder im Schulkreis für den Kanton Aargau die beste Form sei, um das in der Bundesverfassung verbriefte Recht auf Bildung umzusetzen. Das heisst es in der Antwort der Regierung auf einen Vorstoss zur freien Schulwahl der FDP-Grossratsfraktion.
Die freie Wahl des Ausbildungsorts sei ein Ausdruck für eine liberale Gesellschaft, schrieben die Freisinnigen in ihrer Interpellation. Sie würde für die Schulen zudem Anreize schaffen, weil sich damit der Wettbewerb verändere und schliesslich stärke sie die Verantwortung der Eltern.
FDP-Fraktion mit Antwort unzufrieden
Vom Regierungsrat wollte die FDP-Fraktion wissen, wie viele Kinder bereits die Schule in einer anderen Gemeinde besuchen, welche Erfahrungen andere Länder mit der freien Schulwahl machen und wie die Regierung diese für den Aargau beurteilt.
Im November hatte der Regierungsrat die Interpellation beantwortet, am Dienstag war sie im Grossen Rat traktandiert. Die Antwort enttäusche die FDP-Fraktion, sagte Grossrat Adrian Meier. «Gouverner c’est prevoir, regieren heisst vorhersehen», zitierte er Emile de Girardin. Beim Aargauer Regierungsrat vermisse er die Voraussicht in der Bildungspolitik jedoch, selbst das Interesse am Thema sei nicht klar. Adrian Meier sagt:
«Bei der Beantwortung der einzelnen Fragen zeigt sich der Regierungsrat dermassen knapp, dass gar von Desinteresse gesprochen werden könnte.»
Als Gründe für einen Schulbesuch in einer anderen Gemeinde nennt der Regierungsrat temporäre Lösungen, etwa bei Umzug der Familie, oder dass er einen schwierigen Schulweg vereinfachen würde. Auch im Fall von Mobbing oder Schulausschlüssen komme es zu einzelnen Schulwechseln.
Etwas mehr als 200 Kinder gehen anderswo zur Schule als vorgesehen
Rund 210–250 Schülerinnen und Schüler im Aargau besuchten 2019 und 2020 die Schule in einer Gemeinde, die grundsätzlich nicht als ihr Schulort vorgesehen war. Das entspricht 0,3 Prozent jener, die die Regelschule besuchen. Für 2021 liegen noch keine Zahlen vor.
Im Aargau besteht derzeit lediglich in Baden eine Art von freier Schulwahl, weil Eltern wählen können, ob sie ihr Kind in die Tagesschule schicken oder nicht. Baden legt die Aufnahmebestimmungen dafür selber fest, der Regierungsrat beabsichtige nicht, hier in die Gemeindeautonomie einzugreifen, schreibt dieser in seiner Vorstoss-Antwort.
Bisher sind alle Versuche für eine freie Schulwahl gescheitert
Neu ist das Thema nicht. Vor zehn Jahren scheiterte ein Vorstoss der EDU zur freien Schulwahl im Grossen Rat. In vier Kantonen gab es bereits Volksabstimmungen über das Anliegen. Doch überall wurde die freie Schulwahl bis jetzt abgelehnt. Im Kanton Baselland im Jahr 2008 mit 72,9 Prozent, 2012 in Zürich mit knapp 82 Prozent Nein-Anteil.
In den Niederlanden ist die freie Schulwahl in der Verfassung verankert. Alle öffentlichen und privaten Schulen werden vom Staat finanziert und unterhalten, obwohl dieser nicht Träger der Schulen ist. Auch in Dänemark, Finnland oder Schweden gibt es eine freie Schulwahl. Finnische Studien zeigten, dass Eltern aus der Mittelschicht ihre Kinder auf qualitativ bessere Schulen schicken. Etwa die Hälfte wählt dabei eine andere als die Nachbarschaftsschule.
Informelle Ranglisten, verwaiste Schulen
Das ist auch eine der Sorgen des Regierungsrats, wenn es im Aargau eine freie Schulwahl gäbe: Dass alle Eltern ihre Kinder auf die «beste» Schule schicken wollen und damit ein informelles Ranking entstehen würde. Die vermeintlich bessere Schule wäre überfüllt, während sich andernorts die Schulhäuser leeren würden. Wolle man das verhindern, müsste die Auswahl der Schülerinnen und Schüler geregelt werden, was die freie Schulwahl für einige wieder beschneiden würde, so der Regierungsrat.
Weil Eltern jene Schule wählen würden, die auch von ihrem privaten Umfeld bevorzugt wird, sei bei der Klassendurchmischung von einer Segregation auszugehen, heisst es in der Antwort weiter. Mit der freien Schulwahl könnten also unterschiedliche Schulen für verschiedene soziale Schichten oder auch religiöse Gruppen entstehen.
«Mit einer freien Schulwahl ginge der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft, in den Dörfern und Quartieren verloren», warnt der Regierungsrat. «Damit würde auch eine sehr wertvolle Integrationswirkung der Volksschule deutlich geschwächt.»
Schulpflicht am Wohnort laut Regierung seit 1835 bewährt
Die öffentliche Volksschule mit der Schulpflicht am Wohnort habe sich seit dem Schulgesetz von 1835 bewährt, resümiert die Regierung. Das irritiert Adrian Meier: «Wir stehen nun im Jahr 2022 und die Parameter sind wahrlich nicht dieselben geblieben», sagte er im Grossen Rat. Geblieben sei jedoch die Notwendigkeit, die Volksschule attraktiv, modern und leistungsstark zu gestalten. Aus Sicht der FDP-Fraktion fehle dem Regierungsrat der Mut, den heutigen Umständen im Bildungswesen genügend Rechnung zu tragen. Das sehe man auch in der formellen Organisation der Volksschule mit ihren 45-Minuten-Lernportionen.
In anderen Bereichen habe sich der Staat angepasst, so Meier, es sei an der Zeit, dass er das auch bei der Volksschule tue: «Der Trend zu Homeschooling ist nicht zu übersehen und sollte doch die eine oder andere Glocke im Bildungsdepartement schellen lassen.»
Das Thema ist für Grossrat Meier darum nicht vom Tisch. «Einige Grossräte aus verschiedenen Fraktionen machen sich zur Zukunft unserer Volksschule grundlegende Gedanken und behalten sich vor, einen weiteren Vorstoss einzureichen», hielt er fest.