Die Pandemie politisiert die Massen: Stimmbeteiligung so hoch wie nie seit 1949 – Parteien gewinnen Mitglieder
Darf ich im Restaurant eine Pizza essen? Wie viele Personen darf man nach Hause einladen? Was ist mit dem Fitnesstraining, dem Theater- und Museumsbesuch? Homeoffice oder Büro? Das Coronavirus betrifft die Lebenswelt von allen. Was der Bundesrat in Bern und Regierungsräte in den Hauptorten beschliessen, hat unmittelbare Alltagsrelevanz.
Beim aktuellen Credit-Suisse-Sorgenbarometer, erhoben vom Forschungsinstitut GFS Bern, figuriert die Pandemie vor dem Klimawandel und der Altersvorsorge als Topsorge. Pressekonferenzen des Bundesrats, zu normalen Zeiten unspektakuläre Veranstaltungen, avancierten zumindest zu Beginn der Pandemie zum Youtube-Hit, während in den sozialen Medien die Fetzen fliegen und die Menschen auf der Strasse gegen Massnahmen aufbegehren. In einem Satz: Die Pandemie politisiert die Massen. Dazu sieben Erkenntnisse.
Höchste Stimmbeteiligung seit 1949
Das schlägt sich in der politischen Partizipation nieder. Bei der Abstimmung zum Covid-Gesetz vom 28. November letzten Jahres wurde mit 65,7 Prozent die vierthöchste Stimmbeteiligung seit Einführung des Frauenstimmrechts 1971 registriert. Politikwissenschafterin Cloé Jans vom Forschungsinstitut GFS Bern taxierte die Coronapandemie als wesentlichen Grund für die hohe Stimmbeteiligung. Sie lenke viel Aufmerksamkeit auf die Politik und die Funktion der Demokratie.
«Jede Abstimmung der letzten zwei Jahre ist damit immer auch ein Stück weit ein Referendum über die Arbeit der Behörden im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung», analysierte Jans. Generell strömten im letzten Jahr mehr Menschen an die Urnen. Die durchschnittliche Stimmbeteiligung betrug 2021 56,6 Prozent. Letztmals höher war sie 1949 mit 58,5 Prozent.
SVP mit so viel Zuwachs wie nach Blocher-Abwahl
Zu den Profiteuren des wachsenden Interesses am Politgeschehen zählen auch die Parteien. Die SVP verzeichnete in den letzten zwei Jahren einen so grossen Mitgliederzuwachs wie seit dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative (2014) und der Abwahl von Christoph Blocher (2007) nicht mehr. Detaillierte Zahlen verrät die wählerstärkste Partei nicht. Sprecherin Andrea Sommer spricht bloss von einem Nettozuwachs «im vierstelligen Bereich».
Unter den Neo-SVPlern befänden sich vor allem jüngere Menschen, die sich vom freiheitlichen Kurs der Partei bei der Coronapolitik angezogen fühlten. «Man hat den Jungen fast zwei Jahre ihres Lebens gestohlen. Sie wurden und werden in einer Phase ihres Lebens eingeschränkt, in der frühere Generationen Spass hatten und reisen konnten», sagte Generalsekretär Peter Keller in einem Interview mit der NZZ.
Allerdings verlor die SVP Mitglieder bei älteren Semestern, weil diese die Coronapolitik der Partei nicht mittrugen. Gemäss Angaben auf der eigenen Homepage zählt die SVP 80’000 Mitglieder. Wie aktuell die Zahl ist, geht aus den Angaben nicht hervor.
Die Mitte: Der Namenswechsel lohnt sich
Die Mitte, das Fusionsprodukt aus CVP und BDP, spürt aufgrund von deutlich gestiegenen Mailanfragen von Bürgerinnen und Bürgern, «dass die Pandemie die Menschen in der Schweiz tatsächlich politisiert», wie Sprecher Thomas Hofstetter sagt. Die ehemalige CVP zählte zum Schluss (31.12.2020) rund 82’000 Mitglieder. Ein Jahr später stieg die Zahl auf 91’500. 4000 Mitglieder steuerte die BDP ein, 5500 Personen schrieben sich neu ein.
Ob diese Entwicklung mit Corona oder dem Namenswechsel zu tun habe, vermag die Mitte nicht zu sagen. Sie führe kein zentral geführtes Mitgliedersystem, das sei Sache der Ortsparteien. Es gebe aber Anzeichen, dass die neue Marke die Partei beflügelt. Von den Kantonalsektionen vernimmt die Zentrale positive Rückmeldungen aus dem Wahlkampf. Es sei auch einfacher, Kandidierende zu finden, sagt Hofstetter. Und der SRG-Wahlbarometer vom letzten Oktober förderte zu Tage, dass 15 Prozent der designierten Mitte-Wählenden sich für die Partei entscheiden, weil sie für etwas Neues steht.
Die Coronapolitik der SP gab bei einem Teil den Ausschlag
In den letzten zwei Jahren kletterte der Mitgliederbestand der SP um rund 1400 auf 32’814 Personen. Die Partei verzeichne seit 2015 einen kontinuierlichen Zuwachs, sagt Sprecher Nicolas Haesler. Eine Befragung aller Neumitglieder, die zwischen Juni und November 2020 der SP beitraten, zeigte: Als Hauptgründe für die Parteimitgliedschaft erwiesen sich Gespräche mit SP-Mitgliedern sowie konkrete Abstimmungs- und Wahlergebnisse. Ein Teil der Befragten habe neu auch die Coronapolitik der Partei, die stark wirtschaftliche Entschädigungen in den Fokus rückte, als ausschlaggebend bezeichnet.
Grüne: So viele Neueintritte wie noch nie
Von einem Mitgliederboom berichtet Grünen-Präsident Balthasar Glättli. «Wir haben noch nie so viele Neueintritte registriert», sagte er in einem Interview mit der «Tribune de Genève». Aktuell zählt die Ökopartei 12’967 Mitglieder – knapp 2300 oder 21 Prozent mehr als vor zwei Jahren. Die Gründe für die Eintritte erhebt die Partei nicht. Dass sich viele aus Sorge um den Klimawandel für die Partei erwärmen, liegt auf der Hand.
GLP rühmt sich für ihre «faktenbasierte Haltung»
6800 Personen zählen die Grünliberalen – das sind 1700 Mitglieder mehr als noch vor zwei Jahren. Informelle Gespräche mit Neumitgliedern, sagt Co-Generalsekretärin Julie Cantalou, deuteten darauf hin, dass die «faktenbasierte Haltung» in der Coronapandemie zwar mitspiele, die Kernthemen aber ausschlaggebend für das Engagement seien. Der Zuwachs habe bereits nach den Nationalratswahlen 2019 begonnen. Die GLP erklärt ihn mit ihren «glaubwürdigen Positionen in der Klima-, Umwelt- und Europapolitik».
Keine Informationen zur aktuellen Mitgliederentwicklung hat die FDP Schweiz. Sprecherin Karin Müller sagt, man habe keine namhaften Schwankungen zu verzeichnen. Gemäss eigenen Angaben aus dem Jahr 2019 zählt die Partei 120’000 Mitglieder.
Fazit: Die Schweizer Parteien gewannen in der Coronazeit deutlich mehr als 10’000 Neumitglieder. Die Mitte entpuppte sich als attraktivste Partei; keiner anderen Formation, die Statistiken bekanntgibt, schlossen sich in absoluten Zahlen mehr Menschen an.
Das sagt der Politanalyst
Natürlich weckte in den letzten zwei Jahren nicht nur die Pandemie das Interesse an der Politik. Die Angst um den Klimawandel trieb Scharen von Menschen auf die Strasse. Bei den Eidgenössischen Wahlen 2019 wurde der Nationalrat jünger, weiblicher und grüner. «Das liegt auch daran, dass überdurchschnittlich viele Erst- und Neuwähler partizipierten», sagt Politanalyst Mark Balsiger.
Eine Reihe von Abstimmungen provozierte in den letzten zwei Jahren sodann lange, intensive und teils gehässige Debatten. Balsiger nennt die Konzernverantwortungsinitiative, das Jagdgesetz, die Anschaffung eines neuen Kampfjets, das CO2-Gesetz und insbesondere die beiden Referenden zum Covid-19-Gesetz. «All das führt zu einer Repolitisierung, allenfalls verstärkt durch einen weitaus grösseren Medienkonsum in den ersten eineinhalb Jahren der Pandemie», sagt Balsiger. Diese Repolitisierung zeige sich nicht nur bei Abstimmungen, sondern auch an der neuen Lust, sich einer Partei anzuschliessen.