Schweiz im UNO-Sicherheitsrat: SVP will Bundesrat ausbremsen
Es scheint sich ein Kreis zu schliessen: Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren stimmte die Bevölkerung dem Beitritt der Schweiz zu den Vereinten Nationen zu. 54.6 Prozent und 12 Stände nahmen die Volksintiative für einen Uno-Beitritt am 3. März 2002 an. Der Abstimmungskampf war geprägt vom Streit über die Neutralität. Die Gegner unter der Führung des damaligen SVP-Nationalrats Christoph Blocher sahen diese durch einen UNO-Beitritt der Schweiz bedroht. Ihr Plakatsujet: ein Beil, das auf den Schriftzug «Neutralität» niedergeht.
Auf Seiten der Befürworter standen der Bundesrat und die grossen Parteien mit Ausnahme der SVP. Das Plakat der Ja-Kampagne zeigte Wilhelm Tell und den Slogan: «Die Schweiz ist stolz auf ihre Neutralität und sagt Ja zur UNO».
Am Donnerstag befasst sich der Nationalrat erneut mit der UNO – und das übergeordnete Thema ist wieder die Neutralität. Dieser von vielerlei Mythen umrankte, aber in seiner konkreten Bedeutung häufig im Ungefähren bleibende Kernbegriff des Schweizer Staatsverständnisses ist derzeit wieder in aller Munde. Ausgelöst durch die russische Invasion in der Ukraine und die Frage, welche Sanktionen die Schweiz ergreifen soll, ist erneut eine heftige Debatte über Sinn, Zweck und Bedeutung der Neutralität entbrannt.
SVP sieht gar den «inneren Frieden des Landes» in Gefahr
Die SVP will mit einer Motion erreichen, dass der Bundesrat die Kandidatur der Schweiz als nichtständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats für die Wahlperiode 2023–24 im letzten Moment zurückzieht. Die Wahl findet im kommenden Juni statt. Weil es keine Gegenkandidaturen gibt, wäre die Wahl der Schweiz reine Formsache.
Für die SVP würde eine Mitgliedschaft im wichtigsten Gremium der Vereinten Nationen «mit der jahrhundertealten Tradition der Schweizer Neutralität brechen», wie es in der Begründung der Motion heisst. Die nationalrätliche Debatte heute wird eine kurze Angelegenheit sein. Lediglich dreissig Minuten hat das Büro des Nationalrats dafür vorgesehen. Einen Rückkommensantrag der SVP für eine ausführlichere Behandlung lehnte es ab.
Doch die Bedenken der Partei waren bereits am Montag bei der Fragestunde des Nationalrats zu hören. Nicht weniger als zehn Fragen zum Thema reichte sie ein. Nebst der Neutralität sahen die SVP-Vertreter auch die Guten Dienste der Schweizer Diplomatie, den inneren Frieden des Landes sowie das Mitbestimmungsrecht des Parlaments in Gefahr, sollte der Bundesrat an der Kandidatur festhalten.
Lange Vorgeschichte im Parlament
In seinen Antworten an die SVP erinnerte Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) daran, dass der Bundesrat gegenüber dem Parlament bereits ausführlich zu den Auswirkungen einer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat auf die Schweizer Neutralität Stellung bezogen hat. Mit Verweis auf einen im Auftrag der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats erstellten Bericht sagte Cassis, dass die Schweiz ihre Neutralität im Sicherheitsrat «unverändert und vollumfänglich» ausüben könne. Auch ihr friedenspolitisches Engagement sei damit vereinbar, sagte Cassis:
«Die Schweizer Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit. Im gegenwärtigen polarisierten Kontext ist die Neutralität ein Vorteil, kein Hindernis.»
Der Gesamtbundesrat und Aussenminister Cassis im Besonderen mussten sich jüngst aus allen politischen Lagern viel Kritik für ihren aussenpolitischen Kurs anhören – wie vorletzte Woche bei der Kommunikation rund um den Entscheid, die EU-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen.
Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass der Bundesrat bei der Kandidatur für den UNO-Sicherheitsrat vom Nationalrat zurückgepfiffen wird. Das Anliegen hat eine lange parlamentarische Geschichte – und fand während dieser ganzen Zeit eine eindeutige Mehrheit.
Formell hatte der Bundesrat im Januar 2011 den Entschluss gefasst, eine Kandidatur der Schweiz für einen der beiden Sitze der Gruppe der westeuropäischen und anderen Staaten anzumelden. Bereits zuvor hatte er sich in einer mehrjährigen «Reflexions- und Konsultationsphase» die Unterstützung der aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments gesichert. Im Plenum scheiterten seither alle aus den Reihen der SVP initiierten Versuche, die Kandidatur zu stoppen. Zuletzt hatte sich der Nationalrat im März 2020 mit 157 zu 52 Stimmen für die Kandidatur ausgesprochen.
Zweifel in der Mitte dürften Resultat nicht ändern
Könnte es dieses Mal anders kommen? Immerhin sprachen sich mit Parteipräsident Gerhard Pfister und Fraktionschef Philipp Bregy jüngst zwei Schwergewichte der Mitte-Partei öffentlich gegen die Kandidatur aus. Doch gemäss CH-Media-Informationen unterlagen Pfister und Bregy vergangene Woche in der Fraktionssitzung mit einem Antrag, die Motion der SVP zu unterstützen. Pfisters und Bregys Zweifel an der Kandidatur sind nicht neu. Sie und neun weitere Mitte-Vertreter hatten sich bei der Abstimmung 2020 enthalten. Erfahrene Aussenpolitiker rechnen deshalb – trotz angespannter weltpolitischer Lage und einer neuentbrannten Neutralitätsdiskussion – mit einem ähnlichen Ergebnis im Nationalrat wie beim letzten Mal.
Und so dürfte die Mitgliedschaft der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat am Donnerstag die vorletzte Klippe umschiffen, bevor sich der Ständerat nächste Woche damit befasst.