Karwochenmenschen
Es wird bitter ernst – der Palmsonntag lässt es uns erahnen.
Zwar jubelt die Menschenmenge Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem zu: Hosianna! Aber das ist ursprünglich der Flehruf «Hilf doch!» und Jesus ist auf seinem Weg ans Kreuz, dieser grausamen Todesstrafe mit vorheriger Verurteilung und Verspottung. Ostern, das Auferstehn ist nicht in Sicht …
Und es ist jedes Jahr dasselbe: Das Kirchenjahr wird immer ernster, das Kalenderjahr immer fröhlicher. Während in der Jahreszeit alle Zeichen auf Aufbruch stehen, weisen die Zeichen im Kirchenjahr auf einen Abbruch hin. In der Kirche bereiten wir uns vor auf die «stille» Woche und auf den Trauer-Freitag. Ganz anders die Stimmung im Kalender: Frühling wird hier gefeiert, bald einmal freie Tage und in den Läden ist seit Monaten schon Ostern im Blickfeld der Geschäftsleute – der Umsatz blüht ebenfalls. Verwelken tut hingegen Jesus Leben; die Leidensgeschichte Jesu, seine letzten Lebenstage beginnen am Palmsonntag.
Wie hatte es einmal Franz Kafka ausgedrückt: Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen als begangen zu werden.
Kafkas Werke gehörten zwar zur Weltliteratur, aber auch sein Leben war düster und vom frühen Tod gezeichnet. Eine weitere Leidensgeschichte − Becker würde ihn wohl ebenfalls als Karwochenmensch bezeichnen.
Karwochenmenschen − über diesen Ausdruck von Becker bin ich gestolpert und daran hängen geblieben. Mit der Zeit wurde er mir lieb und wichtig, er wird mich begleiten und vielleicht nun auch Sie? Und auf einmal ist mir selber ein solcher Karwochenmensch in den Sinn gekommen:
Alter schwer zu schätzen, sicher nicht alt. Verfilzte Haare, dreckige Hände und Füsse, zerlumpte Kleider, oft sitzend und noch öfter liegend auf den Strassen Kleinbasels. Entweder leerer Blick oder geschlossene Augen. Ich weiss nichts von ihm. Nur dies: Er ist ein Mensch, aber wie aus unserer Welt gefallen – er lebt wohl in seiner eigenen Welt. Gestolpert, gefallen und liegen geblieben – oder? Becker trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt: «Wer aus der Welt gefallen ist, zeigt das nicht gerne. Irgendwann aber kann man es nicht mehr verstecken. Irgendwann ist einem egal, was andere denken. Dann ist man unten angekommen.» Und ob ein Karwochenmensch an allem selbst schuld ist, ist unwichtig. Er tut Becker leid. Wer ganz unten sei, aus der Welt gefallen, rechne mit nichts mehr.
Vielleicht bekommt solch ein Karwochenmensch also wenigstens noch dies: unser Mitgefühl. Denke ich an meinen ganz persönlichen Karwochenmenschen, dann tauchen noch diese zwei Erinnerungen auf. Das eine Bild ist, dass ich mit meinem Mitleiden nicht alleine bin und dieses zum Handeln führen kann, denn einmal sah ich eine Frau um die Vierzig auf ihn zukommen und ihm ein Gefäss voller Früchte reichen. Er nimmt es entgegen. Das andere Bild ist erneut beelendend. Mein Karwochenmensch begann sich gerne in Nähe von Ladeneingängen aufzuhalten. Das stört – verstört die Ladeninhaber, die Kundschaft. Und ich sah einmal die Polizei aufkreuzen, danach war er verschwunden. Als ich ihn viel später, kurz vor meinem Wegzug, wiedersehen konnte, freute ich mich sehr: Er war doch noch da …
Vielleicht geht es tatsächlich genau darum: wahrzunehmen, dass, so Becker, «die Karwoche eine Fühlwoche ist». Heisst: Ich habe Zeit, zu fühlen mit denen, die aus unserer Welt gefallen sind. Denn Gott möchte mich aufmerksam machen: Achtung, nebst Fröhlichkeit und Aufbruch gibt es nach wie vor und heute wieder verstärkt Schmerzen und bittere Not vieler Körper und Seelen, oft genug im Verborgenen.
Und wenn ich mich dann auch hilflos, ohnmächtig fühle, da ich wenig bis nichts daran ändern kann, so bleibt mir: mein Mitgefühl. Dieses lässt mich, ich zitiere erneut Becker, «mit gefalteten Karwochenhänden» Gott anvertrauen, was ich fühle, aber nicht zu ändern vermag. Jeden Karwochentag ab Palmsonntag kann ich das tun, verbunden mit ein paar Minuten Stille.
Wenn Lebewesen aus unserer Welt fallen, möge sich Gottes Welt ihrer erbarmen. Gottes Reich ist nicht von dieser Welt. In Gottes Reich werden die Letzten die Ersten sein. Was für eine Hoffnung für Karwochenmenschen und ihren Lebensweg. Mit Becker schreibe ich: Gott wird sie nicht vergessen, dafür ist Gott doch da.
Quellenangabe: Michael Becker aus einer Fachzeitschrift «Werkstatt…» des Verlages Bermosser und Höller.