Mission Schulterschluss: EU-Trio verspricht Selenski Kandidatenstatus – aber keine neuen Waffen
Um halb neun Uhr morgens war es so weit: Nach fast zehnstündiger Fahrt durch die Nacht rollt der Sonderzug mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi im Kiewer Hauptbahnhof ein. Bis zuletzt wurden die Eckpunkte des Besuchs aus Sicherheitsgründen geheim gehalten. Nun waren die drei EU-Schwergewichte da, begleitet von schwerbewaffneten Personenschützer.
Die drei Regierungschefs hatten eine kurze Nacht hinter sich: bis um zwei Uhr morgens sassen sie im Wagen von Macron zusammen, der sich in der Zugsmitte befand. Obs bei ihm auch so schön sei, wollte Scholz von Draghi wissen. «Bei mir ist es viel einfacher und nicht so luxuriös» mäkelte Draghi. Aber was solls. Macron sei ja auch der Präsident der Union, scherzte der Italiener mit Blick auf die EU-Ambitionen des Franzosen.
Krieg ganz nah: Raketenalarm in Kiew, Horror in Irpin
Die Stimmung jedenfalls schien im Trio zu passen. Dass sie nach vier Monaten Krieg nun zum ersten Mal und gleich Dreierpack nach Kiew reisen, nahmen die Ukrainerinnen und Ukrainer für ein kaum zu überschätzendes Signal des Unterstützung. «Wir wissen Ihre Solidarität mit unserem Land und unserem Volk sehr zu schätzen», dankte Präsident Wolodomir Selenski.
Nach einem kurzen Aufenthalt im Hotel, der von einem Raketenalarm überschattet wurde, stand die Besichtigung von Irpin auf dem Programm, einem jener Vororte Kiews, der unter der russischen Belagerung stark zerstört wurde. Hunderte von Zivilisten wurden hier und im nahen Butscha von den Russen getötet. Internationale Experten untersuchen die Kriegsverbrechen.
Macron, Scholz und Draghi zeigten sich tief beeindruckt. Scholz sprach von der «sinnlosen Gewalt des russischen Angriffskrieg». Macron sah in den zerstörten Häuser die «Stigmata der Barbarei». Und er, der in den letzten Monaten wegen seiner Telefondiplomatie als Putin-Versteher kritisiert wurde, nutzte die Gelegenheit für eine Klarstellung. «Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen», sagte Macron zu Journalisten. Frankreich wolle auch, dass die territoriale Integrität der Ukraine wieder vollständig hergestellt werde, inklusive Donbass und der von den Russen annektierten Krim-Halbinsel, ergänzten seine Beamten.
Die ukrainische Angst, dass die EU-Granden nach Kiew kämen, um Präsident Selenski zu einem unvorteilhaften Friedensschluss und Gebietsabtretungen zu drängen, stellte sich zumindest nach offiziellen Verlautbarungen als unbegründet heraus.
Bei der mehrstündigen Sitzung am runden Tisch im Präsidentenpalast zusammen mit Selenski und dem rumänischen Staatspräsidenten Klaus Iohannis, der auf eigene Faust angereist war, ging es dann zur Sache. Zwei Themen lagen auf dem Tisch. Erstens: Welche schwere Waffen werden die Europäer zusätzlich liefern? Und zweitens: Wie steht es um das Beitrittsgesuch Kiews, worüber die EU-Staats- und Regierungschefs schon kommende Woche befinden werden.
Scholz hatte einen Besuch in Kiew in den vergangenen Wochen stets mit den Worten abgelehnt, dass er nicht einfach zum «Fototermin» anreisen wolle. Entsprechend hoch waren nun die Erwartungen, dass er etwas Handfestes im Gepäck hatte. Wann schickt Deutschland die versprochenen Gepard-Luftabwehrpanzer und die Marder-Schützenpanzer? Und was ist mit den 88 Leopard-Panzern, die beim Rüstungsbetrieb Rheinmetall stehen? Kündigt Scholz überhaupt neue Waffenlieferungen an?
Kein grosses Waffenpaket, aber wichtiger politischer Sieg für Selenski
In der Pressekonferenz am späteren Nachmittag wollte der Bundeskanzler nicht recht mit der Sprache rausrücken. Er verwies bloss darauf, dass in diesem Moment ukrainische Soldaten in Deutschland an der modernen Panzerhaubitze 2000 ausgebildet würden und wiederholte frühere Zusagen wie die Lieferung des Flugabwehr IRIS-T. Als einziger kündigte Macron die Lieferung von sechs zusätzlichen Artillerie-Geschützen des Typs «Caesar» für kommende Woche an.
Einen grossen Erfolg einstreichen konnte Selenski hingegen bei der Frage des EU-Beitritts. Man sei gekommen, um hier eine «klare Geste» zu machen, sagte Macron. «Deutschland ist für eine positive Entscheidung zu Gunsten der Ukraine», sagte Scholz. Das heisst: Die drei führenden EU-Staats- und Regierungschefs Scholz, Macron und Draghi werden beim EU-Gipfel nächste Woche dafür kämpfen, dass die Ukraine umgehend den Status des EU-Beitrittskandidaten erhält. Ebenfalls Beitrittskandidat werden soll die Republik Moldau. Von seiner Idee einer neuen «geopolitischen Gemeinschaft» in Europa als Alternative zum EU-Beitritt sprach Macron bei dieser Gelegenheit jedenfalls nicht.
Medvedev verspottet Scholz als «Leberwurstfan» und Macron als Frosch-Esser
Die klare Positionierung der EU-Gründungsmitglieder Deutschland, Frankreich und Italien wird massgeblich sein, wenn es darum geht, derzeitige Gegner wie die Niederlande, Dänemark, Schweden oder Portugal zu überzeugen. Am Schluss braucht es einen einstimmigen Beschluss der 27 EU-Länder. Selenski bedankte sich für die Unterstützung: «Die Ukrainer stehen heute an der Frontlinie im Kampf gegen die russischen Angriffe. Aber sie sind nicht allein. Das wird durch den heutigen Besuch von Emmanuel Macron, Olaf Scholz, Mario Draghi und Klaus Iohannis in Kiew bestätigt», so der ukrainische Präsident.
Auch im Kreml verfolgte man die Geschehnisse in Kiew mit Argusaugen. Putin-Sprecher Dmitri Peskow warnte vor einer Intensivierung von Waffenlieferungen. Diese seien «absolut sinnlos» und würden der Ukraine «einfach weiteren Schaden zufügen». Auf seine eigene Weise kommentierte Dmitrij Medwedew, der ehemalige russische Präsident und langjährige Putin-Intimus den Besuch. Er verspottete Scholz, Macron und Draghi als «Fans von Fröschen, Leberwurst und Spaghetti». Ein EU-Versprechen und ein paar alte Haubitzen würden überhaupt nichts ändern und die Ukraine nicht näher an den Frieden bringen. «Die Zeit läuft ab», so der Putin-Getreue.