Ein Dokumentarfilm sucht nach «allem, ausser der Wahrheit» über Martin Suter – kann das gelingen?
Der alte weisse Mann scheint das Schmähobjekt unserer Gegenwart zu sein, will man dem Internet Glauben schenken. Doch immer und überall? Wohl kaum: Wenn er flott schreiben und/oder erfolgreich publizieren kann und Schweizer ist, wird der alte weisse Mann früher oder später mit einem Dokumentarfilm auf der grossen Leinwand gewürdigt. Begleitet von lautem medialem Tamtam. So erging es kürzlich Adolf Muschg mit stolzen 88 Jahren, nun folgt Martin Suter, der 74 Lenze zählt.
Zugegeben, der Titel von André Schäfers Film ist eingängig, smart und dem ehemaligen Werbefachmann Suter angemessen, der ihn erfunden hat: «Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit.» Aber die Verheissung resultiert am Ende in der selbsterklärten Kapitulation. Weder kann man «alles» wissen, noch die «Wahrheit».
Der Mensch hinter der Massengarnitur
Schon gar nicht bei diesem Autor, der, seit er mit der literarischen Produktion begonnen hat, zugleich die öffentliche Kunstfigur Martin Suter kultiviert hat. Weltmännisch, leicht snobistisch, dezent spöttisch und zutiefst wohlwollend. Ein glatter, doch gefestigter Vatertyp, mit dem man gerne fürs kurzweilige Vergnügen ein Bier trinken würde, solange es mindestens in der Kronenhalle passiert.
Zum Greifen nahe kommen wir dem Menschen Suter in der Dokumentation nicht, die als Abschlussfilm auf der Piazza am Locarno Film Festival lief. Allzu viel Unbekanntes, allzu Privates gibt der Schriftsteller zunächst nicht preis, während er, stets im Anzug, das Haus seiner Kindheit besucht, in Guatemala unterwegs ist, am Sandstrand von Heiligendamm sitzt und eloquente Suterismen liefert.
Allerdings: Manchmal blitzen Momente auf, da kommt der Mensch hinter der Massgarnitur zum Vorschein, wird der schöne Schein ein Sein. Etwa wenn Suter mit der Familie kurz über seinen Sohn spricht, der bei einem tragischen Unfall gestorben ist.
Oder wie er sich mit zerzausten Haaren mit dem Rollkoffer durch die Tür seines Zweitdomizils in Marrakesch schiebt. Und – ein rührendes Bild – als er auf der Mundharmonika eine Schulklasse begleitet, die eines der Lieder singt, von denen der Autor so viele für den Musiker Stephan Eicher geschrieben hat.
Zu populär, um geliebt zu werden
«Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit» lässt seinen Protagonisten etwas passiv vor sich hintreiben, bringt ihm viel Respekt entgegen, kitzelt jedoch nicht alles aus ihm heraus. Vielleicht weil Suter einer von jenen Autoren ist, die zu populär sind, um wirklich geliebt zu werden und zu etabliert, um vollends auf Ablehnung zu stossen.
Gut, sein jüngstes, mehrfach verschobenes Buch, das eine «Romanbiografie» über Bastian Schweinsteiger sein sollte, kam bei der Kritik einhellig schlecht weg: Glatt, platt, langweilig, peinlich.
Das lag vor allem an seinem Helden, einem der bekanntesten und zugleich bravsten Fussballer seiner Generation, dessen schlimmste Erfahrung im Leben ein verschossener Elfmeter war. Und dieser weichgespülte Millionär sollte «Einer von uns», so der Titel, sein? Dieses Konzept konnte kaum aufgehen, es fehlte an Biss, Ironie und Fallhöhe. Im Film ist Schweinsteiger ebenso knappe Episode wie Benjamin von Stuckrad-Barre, mit dem Suter sein wohl banalstes Buch, einen Gesprächsband über Badehosen, Glitzer und LSD veröffentlicht hat. «Konzeptionsloses Gelaber» wie Suter selbst das Resultat nannte.
Meisterhaft geheimnisvolle erste Sätze
Dabei hat Suter seinen Sound längst gefunden, sein Erfolgsrezept angerührt und über Jahre hinweg meist souverän angewendet. Er möchte eine Geschichte mit einem Geheimnis haben, sagt er im Film. Schon die ersten Sätze seiner Romane sind oft meisterhaft in ihrer undurchsichtigen Klarheit. «Als Konrad Lang zurückkam, stand alles in Flammen, ausser dem Holz im Kamin» beginnt «Small World». Oder: «Etwas war anders, aber er wusste nicht, was», heisst es in «Die Zeit, die Zeit».
Zusammen mit «Die dunkle Seite des Mondes» sind es diese beiden Romane, die im Film visualisiert werden, indem Szenen aus ihnen mit Schauspielern nachgespielt werden, dazu der Text vorgetragen wird. Der Effekt ist ebenfalls ein mystischer. Wir sehen den trauernden Peter Taler aus «Die Zeit, die Zeit», trinkend, tippend. Im Schatten steht der Autor hinter seinen Figuren, als beobachte er sie beim Wachsen und Wirklichwerden.
Etwas müssig ist die, auch im Film angeschnittene Debatte um die literarische Qualität Suters. Es mag Literaturkritiker geben, die zuerst mit dem Scheinargument ins Feld ziehen, dies sei ja keine seriöse Literatur, um schliesslich umso begeisterter einzugestehen, dass die Bücher beim Publikum weggehen wie warme Semmeln.
Dies ist nun wirklich kein neues Phänomen, die Grenzen zwischen E und U, also zwischen Ernst und Unterhaltung, verschwimmen seit Jahrzehnten. Und welcher Verlag wäre damit vertrauter als Diogenes mit Benedict Wells, John Irving, Amélie Nothomb oder eben, Martin Suter.
Ein chronisch unterschätzter Autor
Es sieht manchmal so aus, als sei man hierzulande misstrauisch gegenüber Erfolgen, die sich nicht einfach erklären lassen. Vielleicht schöpft Suter sein Potenzial auch aus dieser leichten Unterschätzung, ist deshalb so gut, weil man diesem korrekten Menschen noch immer zu selten zutraut, so fantasievolle Bücher zu schreiben.
Deren Inhalt er explizit erfindet, eine Seltenheit zu Zeiten, in denen ein Quatschbegriff wie «authentisch» wieder in aller Munde ist. Er habe nie harte Drogen genommen, sagt Suter im Film; dennoch ist die Beschreibung des Trips in «Die dunkle Seite des Mondes» erschreckend zutreffend.
Aber, böse gefragt: Sind solche Autorenporträts nicht filmisch gewordene Mausoleen? Im besten Fall können sie überraschen, wie etwa im letzten Jahr der Film über einen erstaunlich selbstironischen Paul Nizon. Im zweitbesten Fall wird man dem Autor in dessen Selbstdarstellung gerecht, mehr aber nicht.
Und, ob das wirklich für den Film «Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit» spricht, sei dahingestellt: Doch nach dem Abspann kann einen grosse Lust überfallen, wieder ein Buch von Suter in die Hand zu nehmen.