Soll man Winnetou wegen unrealistischen Klischees verbieten? In Deutschland toben wieder kunstignorante Shitstorms
Als Shitstorm-Berater wäre derzeit viel Geld zu verdienen. Denn am Krisentisch des deutschen Ravensburger Verlags haben sich die Manager in die Ecke drängen lassen. Die Geschichte um den 12-jährigen Winnetou, der als Film in die Kinos kommt, strotze nur so von rassistischen Klischees und verharmlose die realen Lebensumstände der Indigenen Nordamerikas, wurde auf Sozialen Medien moniert.
Der Verlag liess daraufhin verlauten, dass «angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, hier ein romantisierendes Bild mit vielen Klischees gezeichnet wird». Und zog die Bücher und Artikel zum Film aus dem Verkehr.
Das Feedback habe gezeigt, dass «wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben». Nur schon die Wortwahl zeugt von einem erschreckenden Mangel an Kunstverstand. Wenig davon haben auch die Kritiker der Kritiker, die schon mal von «kommenden Bücherverbrennungen» faseln.
Schon klar, Pierre Brice trug mehr Fasnachtskostüm als Apachenkleid
Nun rauft man sich als Literaturwissenschaftler und -kritiker die Haare. Wenn selbst Literaturverlage Romane wie Sachbücher vor das Realismusgericht stellen, haben sie nicht verstanden, um was es in Romanen und Spielfilmen gehen könnte.
Ja, klar, Karl May hat sich Winnetou ausgedacht und als «edlen Wilden» projiziert. Und ja, Pierre Brice war Franzose, sein Kostüm mehr Fasnacht als Apachen-Bekleidung. Und ja, Karl May hat mit kolonialem Blick Gut und Böse verteilt.
Dass es im Kern seiner Winnetou-Geschichten um zeitlose Werte gehen könnte, wird aber von den Winnetou-Kritikern komplett ausgeblendet. Generationen von Jugendlichen haben wohl anderes gelesen: Mut und Freundschaft über ethnische Grenzen hinweg, ein edles, tapferes, kluges, aufrichtiges, stolzes Männervorbild, nicht zuletzt die Solidarität im Kampf gegen Korruption und Landraub.
In den «Winnetou»-Büchern von Karl May sind die Weissen die Schurken
Gut sichtbar ist bei Karl May auch die ebenso klischeehafte Abrechnung mit der verrohten, skrupellosen Aneignung der USA durch Banditen, Eisenbahnbarone und Politiker. Dass Karl May den kolonialen Genozid ausblendet, können nur Literaturunkundige behaupten.
Denn die «Winnetou»-Geschichte ist ja gerade um die Aneignung des Apachenlandes durch die wortbrüchige, rücksichtlose Eisenbahngesellschaft herum aufgebaut. Ironischerweise wird der übelste Schurke, ein weisser Bandit, im Film «Der junge Häuptling Winnetou» von einem Schweizer gespielt, von Kult-Bösewicht Anatole Taubman.
Dann müsste man die Märchen der Brüder Grimm verbieten
Nach der Logik der Winnetou-Kritiker müsste man auch Grimms Märchen verbieten. Nur haben halt heutige Adoptivmütter noch keine Instagram-Lobby gegründet, um das stereotype Bild der bösen Stiefmutter anzuklagen. Gelassenheit ist doch angezeigt. Nur noch wenige lesen die altbackenen Grimm-Märchen vor. Und niemand muss seinen Kindern «Winnetou» vorlesen.
Viele machen es trotzdem und schauen dann auch mal als Realitätscheck eine Doku über die Geschichte der Indigenen in den USA. Oder sie lesen «Pettersson und Findus» vor, oder gehen «Wickie und die starken Männer» im Kino schauen. Aber halt: Ist da nicht das Mädchen Ylvi als Stereotyp der braven, zu Hause auf ihren Helden wartenden jungen Frau zu verurteilen?
Dass man Filme mit plumpen Klischees nicht mit öffentlichen Geldern fördert und dass man plumpe Romane verreisst, ist richtig. Aber die Leute für komplett naiv zu halten, und ihnen zu unterstellen, das Eigenleben der Fiktion und historische Realität nicht unterscheiden zu können, ist überheblich und dumm.