Sie sind hier: Home > International > Steht Cherson kurz vor der Befreiung? Darum ist die Region sowohl für Russland als auch für die Ukraine so wichtig

Steht Cherson kurz vor der Befreiung? Darum ist die Region sowohl für Russland als auch für die Ukraine so wichtig

Mit einer Rückeroberung von Cherson könnte die ukrainische Armee den Landzugang zur russisch besetzten Halbinsel Krim blockieren. Trotz erster, schwerer Artillerieschläge auf russisch besetztes Gebiet, halten sich die ukrainischen Streitkräfte zu den Zielen der Offensive bedeckt. 

Cherson war die erste ukrainische Gebietshauptstadt, die Anfang März an die russische Armee fiel. Mit dem Beginn der russischen Besatzung ging die lokale Bevölkerung während rund zwei Wochen beinahe täglich auf die Strasse, um gegen die Aggressoren zu demonstrieren. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski verlieh Cherson daraufhin den Titel «Heldenstadt». Denn durch die Demonstrationen wurde Cherson ein Symbol des Widerstands gegen Russland.

Einwohnerinnen und Einwohner von Cherson demonstrieren am 5. März gegen die russische Besatzung. Auf dem Plakat des Mannes steht: «Welt ohne Russland».
Olexandr Chornyi / AP

Die am 29. August offiziell gestartete ukrainische Gegenoffensive hat jetzt zum Ziel, die Region von den russischen Besatzern zu befreien. Denn die «Heldenstadt» und ihr Umland haben eine grosse symbolische und strategische Bedeutung – für beide Kriegsparteien und nicht nur wegen ihrer Lage am Mündungsdelta des Flusses Dnipro.

«Historische Chance» für die Ukraine

In Nato-Kreisen ist von einer «historischen Chance» für die Ukraine die Rede. Wenn es gelänge, Putins Truppen aus Cherson zu vertreiben, wäre die erste an Russland gefallene Grossstadt auch als erste wieder befreit. Dies käme einer Blamage für Moskau gleich und wäre ein Grund für Debatten über Putins Zukunft, wie westliche Experten im Vorfeld bemerkten. Eine militärische Niederlage bei Cherson könnte Putins politische Karriere beenden – deshalb sprechen Experten auch von einer «Schlacht um die Zukunft Europas». Weiter müsse Russland nun zum ersten Mal in diesem Krieg auf etwas reagieren, dass die Ukraine macht, sagte der ehemalige Chef des Leitungsstabs im deutschen Bundesverteidigungsministerium Nico Lange unlängst.


Strategisch gesehen, ist die Region Cherson als Teil der «Kornkammer der Welt» für die ukrainische Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Die Griechen nannten die Gebietshauptstadt zudem «Chersonesos» – «Halbinsel». Tatsächlich beginnt die Krim nur knapp 100 Kilometer südöstlich. Russland will sowohl einen Landzugang auf die Halbinsel als auch deren Wasserversorgung sicherstellen. Dafür ist der Nord-Krim-Kanal essenziell, der ebenfalls durch den Oblast Cherson verläuft. Sollte Cherson von den ukrainischen Streitkräften befreit werden, ist die Krim vom Festland abgeschnitten.

Auch kann Moskau, sofern es Cherson halten kann, die Stadt als Ausgangspunkt für weitere Feldzüge – zum Beispiel für die Einnahme der für den Getreideexport wichtigen Hafenstadt Odessa 200 Kilometer westlich – nutzen. Für den putinschen Plan der Zersplitterung der Ukraine ist die Besetzung von Cherson ebenfalls wichtig. Denn der russische Präsident will die Region an Russland anschliessen – mittels eines Referendums und nach Möglichkeit bereits im September.

Ungewisse Erfolgsaussichten

Das britische Verteidigungsministerium schrieb in seinem täglichen Update zu den Kampfhandlungen, dass mehrere ukrainische Brigaden am frühen Morgen des 29. August das Artilleriefeuer an der Südfront verstärkt hätten. Gleichzeitig würden die russischen Truppenverbände ihre Kräfte westlich des Dnipro und rund um Cherson bündeln. Die ukrainische Armee sei an der südlichen Front im Vorteil, sagte zudem ein ukrainischer Abgeordneter aus der Region. Dies nachdem in den vergangenen Wochen wichtige Brücken über den Dnipro angegriffen wurden. Der russische Nachschub über den Fluss ist seither von Schwimmbrücken abhängig.

Die Antoniwka-Brücke bei Nova Kachowka wurde bereits im Juli durch ukrainischen Beschuss stark beschädigt. 
Twitter

Das ukrainische Militär hält sich mit Meldungen zur Lage jedoch zurück. Natalija Humenjuk, Pressesprecherin des Südkommandos der Armee sprach am Dienstag lediglich von «Positionskämpfen» in den Gebieten Mykolaiv und Cherson. Es sei noch zu früh, von zurückeroberten Orten zu sprechen.

Der deutsche Militärexperte Carlo Masala von der Universität der deutschen Bundeswehr in München sieht indes eher die «Vorbereitung» einer Gegenoffensive. Die Lage sei unübersichtlich, neutral verifizierbare Informationen bekomme man kaum. Klar sei, dass eine Verteidigungslinie der Russen gefallen sei. Unklar sei jedoch, ob der Stoss der ukrainischen Armee wirklich der Stadt Cherson selbst gelten würde.