Regierungsrat hat einen Plan gegen häusliche Gewalt – Präsidentin der Frauenzentrale ist irritiert
Im Jahr 2021 ist es im Aargau zu 567 Strafanzeigen wegen Gewalt in der Ehe, Partnerschaft oder Familie gekommen. Zwei Personen wurden im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt getötet, dazu gab es fünf Tötungsversuche. Täglich muss die Polizei kantonsweit sechsmal wegen häuslicher Gewalt eingreifen, die Zahl der Polizeiinterventionen nehme gar noch jährlich zu, die Dunkelziffer ist vermutlich hoch.
«Das macht betroffen, es ergibt sich ein trauriges Bild», sagte Regierungsrat und Vorsteher des Departements Volkswirtschaft und Inneres, Dieter Egli, am Donnerstagmorgen an einer Medienkonferenz zur Umsetzung der Istanbul-Konvention.
Die Istanbul-Konvention ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Seit dem 1. April 2018 ist die Konvention in der Schweiz in Kraft, die Umsetzung liegt bei den Kantonen. Der Aargauer Regierungsrat hat vor den Sommerferien einen Massnahmenplan erarbeitet und gestern präsentiert. «Es ist ein Tabuthema», sagte Dieter Egli. Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt seien aber keine private Angelegenheit und dürfen nicht toleriert werden. Damit man gegen sie angehen könne, müsse man sie auch sichtbar machen.
Neun Themenfelder, insgesamt 13 Massnahmen
In neun Themenfeldern von «Sexuelle Belästigung» über «Schutzeinrichtungen» und «Genitalbeschneidungen» bis «Weiterbildung» und «Öffentlichkeitsarbeit» sind insgesamt 13 Massnahmen definiert. Umgesetzt werden diese hauptsächlich innerhalb der bereits bestehenden Strukturen.
Mit der Umsetzung der Istanbul-Konvention betrete der Aargau denn auch kein Neuland, er habe bereits namhafte Anstrengungen gegen häusliche Gewalt unternommen, sagte Mirjam von Felten, die Leiterin der Fachstelle Häusliche Gewalt beim kantonalen Departement des Innern. Die Zusammenarbeit zwischen der Verwaltung und den verschiedenen Institutionen habe sich bewährt, zudem unterhalte der Aargau bereits fortschrittliche Modelle – wie etwa die Fachstelle gegen häusliche Gewalt, die 2003 eingerichtet worden ist.
Sensibilisieren, informieren, weiterbilden
Nachholbedarf bestehe aber klar in der Weiterbildung von Fachpersonen und Freiwilligen sowie in der Öffentlichkeitsarbeit. Das Angebot des Kantons bei der Problematik Häusliche Gewalt sei noch zu wenig bekannt, so Mirjam von Felten, auch die Bevölkerung soll besser informiert und sensibilisiert werden. Dafür wird eine Webplattform mit Angeboten für Betroffene und Fachpersonen lanciert. Auch eine einheitliche und aussagekräftige Statistik wird aufgebaut, deren Ergebnisse dazu dienen sollen, häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen sichtbarer zu machen.
Mit dem Massnahmenplan soll auch die Arbeit mit den Tätern, den gewaltausübenden Personen, verstärkt werden. Bisher können Aargauerinnen und Aargauer in Liestal ein Lernprogramm des Kantons Basel-Landschaft besuchen, in Zukunft gibt es dieses Angebot, neben der Gewaltberatung, auch im Aargau. Somit können die Behörden das Lernprogramm konsequenter anordnen.
Weiter hat der Regierungsrat beschlossen, bereits bestehende Projekte und Massnahmen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt weiterzuführen oder zu erweitern. So wird für das Frauenhaus eine Bedarfsabklärung durchgeführt. Auch für einen Telefondienst und einen niederschwelligen Zugang zu einer Notunterkunft für gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche wird die Nachfrage abgeklärt. Die Prävention von weiblicher Genitalbeschneidung – auch das ist eines der neun Handlungsfelder – wird in den Leistungsvertrag des Gesundheitsdepartements mit der Fachstelle Sexuelle Gesundheit Aargau (Seges) aufgenommen.
Fast nur die Projektstelle kostet zusätzlich
Somit halten sich auch die Kosten in überschaubaren Grenzen. Ein Grossteil der Massnahmen wird über das bestehende Budget finanziert. Zusätzlich zu Buche schlagen wird vorab eine neue Projektstelle für die Weiterbildung und zur Unterstützung der Fachstelle Häusliche Gewalt. Wie viel Geld für die Umsetzung der Istanbul-Konvention vom Kanton aber effektiv an die Hand genommen wird, konnte an der Medienkonferenz nicht beantwortet werden.
Nachgefragt mit Gertrud Häseli, Präsidentin Frauenzentrale Aargau
Frau Häseli, sind Sie als Präsidentin der Frauenzentrale mit dem kantonalen Massnahmenplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention zufrieden?
Gertrud Häseli: Nein. Das Problem ist zwar erkannt, lösen will es die Regierung aber innerhalb der bestehenden Strukturen mit dem bestehenden Personal. Die Umsetzung der Istanbul-Konvention darf also offenbar nichts kosten, es wird so gut wie kein Geld dafür eingestellt. Man gibt jetzt neu einfach einen Rahmen vor, in dem diese Massnahmen gebündelt werden.
Was haben Sie sich denn stattdessen erhofft?
Ich hatte erwartet, dass die Zuständigkeiten auf der kantonalen Verwaltung klar benannt und dann entsprechend Gelder gesprochen werden. So könnte die Umsetzung der vorgestellten Massnahmen auch eine Wirkung haben.
Was wäre denn das dringendste Anliegen aus Sicht der Frauen?
Dringend notwendig wäre, dass wieder ein kantonales Gleichstellungsbüro eingerichtet wird, das als zentrale Anlauf- und Fachstelle auch für häusliche Gewalt und Gewalt an Frauen geführt wird. Die Fachpersonen auf dieser Stelle würden im Blick haben, wo die Umsetzung der Istanbul-Konvention noch nicht geschehen ist, und könnten entsprechend Druck aufbauen.
Zum Frauenhaus oder Telefondienst für Jugendliche gibt es zuerst noch eine Bedarfsabklärung. Braucht es vielleicht einfach noch etwas Geduld, bis sich Resultate zeigen?
Jede Polizeistatistik zeigt, dass das Problem existiert. Dass es weitere Abklärungen brauche, ist ein fadenscheiniges Argument. Leider hat die Regierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht und ein gesamtgesellschaftliches Problem in den privaten Raum verschoben. Um es zu lösen, bräuchte es aber Geld.
Werden Sie im Grossen Rat aktiv werden und eine konkretere Umsetzung fordern?
Ja. Dieses Thema muss auf die politische Agenda.