Nonbinäre Weltbeatmung: Kim de l’ Horizon erpilzelt sich jetzt auch die Bühne
Überschäumend, wildwütend und verstiegen: Das alles ist das erste Bühnenstück des Schweizer Shootingstars Kim de l’ Horizon. Die Schreibperson (er, sie will sich auf kein Geschlecht festlegen), die mit ihrem Erstling sowohl für den Schweizer als auch für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, kennt keine Berührungsangst. Zum Ende ihrer Hausautorschaft an den Bühnen Bern zeigt sie ihr Debüt, das nach einem dramaturgischen Kraftakt (kürzen, kürzen, kürzen) nun sein Publikum sucht.
Es ist ein gruftiger Abend, nur diese Qualifikation ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Alles andere? Kim de l’Horizons lyrischer Rave nach den Gebrüdern Grimm, «Hänsel & Greta & The Big Bad Witch», ist fluid wie die Schreibperson selbst. Shayenne Di Martino steckt Mensch und Material in animalische Sci-Fi-Kostüme und orgiastischen Tüll, High-End-Mode, die ein eigenes Di Martino-Label behaupten könnten.
Bakterien husten, Flechten fluchen, Algen sind anders
Hänsel («das hochsensible Sensörchen») und Greta («die autistische Weltretterin»)gehen also in den schwarzen Wald. Um? Egal. Der Wald (von Charlotte Martin) ist ein Nachtclub mit einem Tresen und Poledance-Stange, und wer kann, findet in der Umgebung selbsterotischer Befriedigungsangebote Pilze, Flechten oder was immer stoned macht. «Hänsel & Gretel & The Big Bad Witch» nimmt sich aus als Theater auf Koks, und wer von den Figuren im Moment nicht high ist, erklärt den anderen sogenannte «Weltrettungsübungen».
Zum Beispiel: «Banden bilden», oder «Steine fressen Erde machen». Oder «Dornröschenschlaf». Die Mission wird klar: Die Schreibperson hat bei der Biologin Donna Haraway, der Expertin für das Überleben unserer Spezies und Erfinderin der «Cyborgologie», nachgelesen. Es geht um Vergesellschaftung jenseits des Blutes.
Die Erde als «überarbeitete Frührentnerin»
Also treten auf, nur als Beispiel: ein Chor der Bakterien, Schnecken mit Namen, für die die deutsche Sprache neu erfunden werden muss, Punk-Vronis (Steinflechten), die böse Hexe – und natürlich die Erde selbst als «überarbeite Frührentnerin».
Man muss diesem Edelbräu an Text und dem Gebirge an Bedeutungsebenen, die er aufeinanderstapelt, nicht folgen können. Man folgt anderem, Anderen: In der Regie von Ruth Mensah findet eine grossartige blutjunge Besetzung zusammen, als Quartett hypernervös, überkandidelt, bereit, sich in Steine einzufühlen, in Vögel, in Urmaterie – oder als bitchy Hexe, die bei Genet Zegay eine herrlich larmoyante Opfererzählung zum Besten gibt.
Wer beispielsweise diese Greta gesehen hat, lässt Grimms Märchen im Spind liegen und will nur noch ihre grimmige Weltuntergangsfantasie: Lucia Kotikova, Mitglied des Ensembles, ist als Weltenretterin von einer gelangweilten Besessenheit, enorm. Angeführt von ihrer Energie macht das Team eine Endzeitfantasie zum Theaterwunder der schmutzigen, weil durchaus nicht sortenreinen Sorte.