Kings Elliot erobert die Weltbühnen: So gut klang Gruppentherapie noch nie
Hamburg ist eine Musikstadt, nicht nur wegen der Beatles, die hier den Grundstein für eine Weltkarriere legten. Jedes Jahr im September, wenn das «Schietwetter» durch die Strassen pfeift, trifft sich aufstrebendes Musikschaffen in der Hansestadt. Das Reeperbahn Festival bespielt Clubs und Bühnen rund um die Reeperbahn – eben auch den berüchtigten Indra-Club, wo die Pilzköpfe 1960 ihre ersten Konzerte gaben.
Am vergangenen Wochenende fand die 17. Ausgabe des Festivals statt. Gleich zwei Mal auf den Hamburger Bühnen dabei: Kings Elliot. Auch im Norden hat man die Überfliegerin aus der Schweiz entdeckt. Die 28-jährige Schwyzerin (und seit sechs Jahren Wahl-Londonerin) tourte während der letzten Monate als Support-Act von Imagine Dragons und Macklemore durch Europa und die USA, spielte in ausverkauften Stadien.
Eine grosse Geste für zarte Seelen
Dort, wie auch nun im Hamburg, füllt sie den Platz, der ihr geboten wird allein mit ihrer Stimme und einer Begleitung am Keyboard. Auf der Bühne leuchten lange, tiefblaue Haare. Sie sind ihr Markenzeichen: «Vor etwa zweieinhalb Jahren, als ich mich entschieden habe, dass ich jetzt Kings Elliot heisse, habe ich mir die Haare blau gefärbt. Das ist für mich wie ein Zauberumhang. Der Look gibt mir Mut, ehrlich zu sein, wie ich es mich mit der natürlichen Haarfarbe, mit meinem bürgerlichen Namen vielleicht nicht getraut hätte», erzählt Anja Gmür, alias Kings Elliot, die wir zwischen ihren beiden Auftritten in einer Hotel-Lobby treffen.
Bei über 400 Konzerten von Bands aus 38 Nationen ist es nicht einfach, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen. Zu Beginn ihres ersten Auftritts am Freitagnachmittag stand zunächst nur ein kleines Grüppchen vor der Bühne.
«Ich habe dann die Augen zugemacht und gesungen. Als ich die Augen wieder geöffnet habe, waren da auf einmal so viele Leute, die mir zugehört haben.»
Die Bühne gehörte an jenem Tag den Schweizer Künstlern – und vor allem Künstlerinnen, neun Bands aus der Schweiz, unter ihnen Joya Marleen, Evelin Trouble und die aufstrebenden Batbait. Wer wissen will, wer in der Schweizer Musiklandschaft künftig den Ton angeben wird, konnte es hier hören. Die Stimme von Kings Elliot setzt unter ihnen einen starken, ungeniert dramatischen Akzent.
Auf ihrer soeben erschienenen EP breitet sie ihre Verletzlichkeit mit grosser Geste aus, wie es sonst nur Popikonen wie Lana Del Rey oder Billie Eilish gelingt, ohne dabei an Selbstmitleid zu erkitschen.
Die Themen ihrer Songs sind existenziell, es geht um Trauer, Hoffnung – und ganz explizit – psychische Gesundheit. «Über andere Themen zu singen, war für mich nie eine Option», so die Sängerin.
Einfach sei es dennoch nicht immer gewesen, offen über ihren Umgang mit einer Borderline-Störung zu sprechen. «But I’ll hide it away / Pretending I know to be brave», heisst es etwa im Anti-Schlaflied «Cry, Baby, Cry». In den letzten Jahren habe sich die Gesellschaft jedoch weiterentwickelt, so Kings Elliot:
«Immer mehr Leute sprechen über diese Themen, Tabus werden nach und nach gebrochen. Wir sind aber immer noch nicht am Punkt, an dem physische und psychische Gesundheit gleich behandelt werden. Auch deshalb erzähle ich meine Geschichte.»
Ihr zweites Konzert in Hamburg kündet Kings Elliot so auch als «Gruppentherapie» an. Und diese hat es in sich. In der vordersten Reihe stehen Fans, die jedes Wort mitsingen können. Sie tragen ihre Frontfrau über die Stelle hinweg, als ihr unter Tränen die Stimme wegbricht. Das Drama, das Kings Elliot auf die Bühne bringt, ist echt und tut deshalb so gut.
Ein «King» findet Inspiration bei der «Queen»
Zur Musik gefunden hat die Schwyzerin ausgerechnet durch Partyhit-Garantin Britney Spears. Ihr ganzes Zimmer hängte sie als Siebenjährige voll mit Postern des Popstars. Inspiration für die eigene Musik fände sie aber woanders. «Meine Mutter hat viel Queen gehört. Deren Songwriting und die eindrücklichen Chöre haben mich inspiriert», so Kings Elliot, «aber auch Frank Sinatra oder der Soundtrack von ‹Wizard of Oz›, also Musik, die dich wie in eine wohlig warme Decke packt, gefällt mir sehr. Ich hoffe, dass ich mit meiner Musik etwas Ähnliches auslösen kann.»
Es gelingt ihr auf ihre Weise: Der Ausspruch «Sick Puppy», also kranker Welpe, wurde an ihren Konzerten vom versammelten Publikum im Chor gebrüllt, zum tröstenden Schlachtruf.
Nach dem Reeperbahn Festival geht es für das nächste Konzert nach London, danach noch einmal in die USA. Heimweh gebe es da manchmal auch, nur: «Ich habe ein ganz verwirrtes Heimatgefühl. Schon in der Schweiz bin ich oft umgezogen, dort habe ich Freunde und Familie. Jetzt lebe ich aber auch schon sechs Jahre in London, dort habe ich meine vier Hasen.» Natürlich gibt es Dinge, die ihr in London fehlen: «Ich liebe Aromat! Ich mache auf alles Aromat. Und feines Schweizer Brot vermisse ich auch.»