EU-Neustart noch nicht in Sicht, aber Livia Leu bleibt «zuversichtlich»
Der Bundesrat macht nicht vorwärts. Der Bundesrat weiss nicht, was er will – Staatssekretärin Livia Leu gab sich am Mittwoch alle Mühe, diese in Brüssel oft gehörte Kritik zu entgegen. Sie habe durchaus «substanzielle Gespräche» geführt, beteuerte Leu nach der fünften Sondierungsrunde in der EU-Hauptzentrale. Sie gab sich auch «zuversichtlich», dass man auf Schweizer Seite demnächst die Arbeiten an einem neuen Verhandlungsmandat beginnen könne.
Für den Moment allerdings dauere es noch etwas. Der Grund: Es sei die EU-Kommission, die noch nicht verhandlungsbereit sei. «Die EU möchte erst dann anfangen, wenn sie gewisse Sicherheiten hat, dass man nicht nochmals in eine Situation wie mit dem Rahmenabkommen kommt», so Leu im Nachgang des Treffens zu Journalisten. Damit meint sie den den Abbruch der jahrelangen EU-Verhandlungen durch den Bundesrat im Mai 2021.
Tatsächlich liess die EU-Kommission mitteilen, man benötige bei Themen wie der Personenfreizügigkeit jetzt noch «zusätzliche Informationen». Im November wird Leu zu einem neuen Treffen in Brüssel erwartet.
Die Schweiz und die EU sind sich einig: Wir wollen Bilaterale III
Nach fünf Runden war es für die oberste Schweizer Diplomatin aber auch Zeit, ein Zwischenfazit zu ziehen. Wo steht man? Wo gibt es wenigstens ein Bisschen Einigkeit mit Brüssel?
Einverstanden seien Beide zum Beispiel darin, dass man eine institutionelle Annäherung mit neuen Abkommen ergänzen, eine Art Bilaterale III abschliessen wolle. Dies erlaube es für die Schweiz, einen Interessensausgleich zu finden. Der Bundesrat sei in diesem Rahmen auch «grundsätzlich bereit», eine wiederkehrende Kohäsionszahlung zu leisten, so Leu.
Unbestritten sei auch, dass die dynamische Übernahme von EU-Recht teil des Pakets sei. Dies, auch wenn es noch Diskussionsbedarf bei den Ausnahmen gebe, etwa beim Lohnschutz oder bei der Anwendung der staatlichen Beihilfen.
Frust bei den Hochschulen: Die Forschung wird zum Kollateralschaden
Klar ist aber: Ewig Zeit hat man auch nicht. Besonders bei den Hochschulen beginnt der Leidensdruck zu steigen. Mit dem Ausschluss der Schweiz aus der EU-Forschungszusammenarbeit sei es, wie «wenn man mit einer Fussballmannschaft von bloss zehn Spieler auf dem Feld steht», klagte Michael Hengartner, Rektor der ETH-Zürich am Donnerstag an einer Podiumsdiskussion in Brüssel.
Man werde benachteiligt, alles werde schwieriger. Lukas Mandl, österreichischer EU-Parlamentarier, kritisierte aber auch die eigene Seite. Mit dem Manöver des Forschungs-Ausschlusses habe sich die EU-Kommission «einen Bärendienst erwiesen».
Das sieht der Neuenburger Nationalrat Fabien Fivaz (Grüne) ähnlich, der die nationalrätliche Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK-N) zu einem zweitägigen Besuch nach Brüssel führte. Leider hätten die Gespräche mit der EU-Kommission gezeigt, dass man sich kaum von der harten Linie abbringen lasse. Für den Fall, dass die Schweiz ein Mandat für neue Verhandlungen verabschiede, gebe es aber Anzeichen, dass die Forschung deblockiert werde, so Fivaz.
Die Nationalrats-Delegation ist die letzte in einer Reihe von Schweizer Parlamentarier-Gruppen, die in den vergangenen Monaten die EU besucht und sich ein eigenes Bild der Lage verschafft hatten. Allein: Die rege Reisetätigkeit zwischen Bern und Brüssel setzt zunehmend auch Chefverhandlerin Livia Leu unter Druck.
Bundesrat schafft neue Struktur zur Steuerung der Europapolitik
Auf Schweizer Seite scheint man jedenfalls bestrebt zu sein, die Basis der eigenen Verhandlungsposition noch breiter abzustützen. So lässt sich zumindest das Ziel einer organisatorischen Massnahme zur «Stärkung der politischen und inhaltlichen Steuerung» der Europapolitik interpretieren, die der Bundesrat am Dienstag ankündigte.
In einem sogenannten «Sounding Board» sollen Vertreter der Kantone, der Sozialpartner und der Wirtschaft nun alle drei Wochen konsultiert werden. Zudem will die Landesregierung die interne Abstimmung mit einer permanenten «Steuerungsgruppe», bestehend aus Vertrauensleuten jedes Bundesrates, sicherstellen.
Klar ist: Ein zweites Mal vor einem Scherbenhaufen zu stehen, kann sich weder Brüssel noch Bern leisten.