Kim de l’Horizon gewinnt Deutschen Buchpreis und protestiert – so reagieren die ausländischen Medien
Mit Schminke, Schmuck und Schnauzbart hat Kim de l’Horizon am Montag in Frankfurt den diesjährigen Deutschen Buchpreis entgegengenommen. Ein Rock aus Pailletten, ein Top wie aus Rasen und ein durchsichtiges Oberteil vervollständigten das auffällige Outfit. Kim de l’Horizon versteht sich als non-binäre Person, sieht sich also weder eindeutig als Mann noch als Frau. Beziehungsweise als beides zugleich.
Der Debütroman der 30-jährigen Schweizer Autorenperson handelt denn auch von Ressentiments, welche über die queere Community zirkulieren. In «Blutbuch» (DuMont) schildert Kim de l’Horizon, wie es wirklich ist, in einem nonbinären Körper zu stecken.
Etwas dazwischen
«Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur (…) nach einer eigenen Sprache», begründete die Jury die Preisvergabe. «Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern liess.»
«Blutbuch» ist dabei weder ein queeres Bekenntnisbuch noch ein Coming-of-Age-Roman, weder ein Familienroman noch pure Autofiktion. Vielmehr, wie könnte es anders sein, etwas dazwischen respektive schliesst am ehesten an frühe feministische Befreiungsbücher an.
Und wie die Autorenperson heisst auch die Erzählfigur des bereits mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichneten Romans «Blutbuch» Kim und fühlt sich weder männlich noch weiblich sondern irgendwo dazwischen.
Protestaktion für «Frauen im Iran»
Bei der Verleihung sagt Kim de l’Horizon, die Auszeichnung sei nicht nur für ihn:
«Die Jury hat diesen Preis ausgewählt als Zeichen gegen Hass und für die Liebe und für die Frauen im Iran.»
Schliesslich zückt die Autorenperson einen Haarschneider und rasiert sich den Kopf – dies als Zeichen der Solidarität mit den Frauen im Iran. Denn die Jury habe den Text auch ausgewählt, …
«um ein Zeichen zu setzen gegen den Hass, für die Liebe, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden.»
Dann rasiert sich Kim de l’Horizon noch am Rednerpult die Haare ab. Und die Autorenperson erntet dafür Standing Ovations.
Als der Name im voll besetzten Frankfurter Römer genannt wurde, gabs auf der Bühne erst nur ein «Wow!». Dann sprang Kim de l’Horizon auf, und rannte sofort ins Publikum und umarmte Freundinnen und Freunde.
Nominiert auch für Schweizer Buchpreis
Kim de l’Horizon ist ein Pseudonym für eine 1992 in der Berner Vorortsgemeinde Ostermundigen geboren Person. Selbst lässt die Autorenperson die eigene Biografie bewusst im Vagen. So heisst es im Klappentext: «geboren 2666».
Klar ist einzig: Der Künstlername ist aus den Buchstaben des Geburtsnamens zusammengesetzt, also ein Anagramm. Und bekannt ist auch: Kim de l’Horizon hat nach Schulen in Winterthur in Zürich studiert und das Literaturinstitut in Biel besucht. Heute schreibt die Siegerperson nebst Literatur und Lyrik auch Theaterstücke. Mit «Blutbuch» steht Kim de l’Horizon auch in der Endausmarchung für den diesjährigen Schweizer Buchpreis.
Der Deutsche Buchpreis gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen der Branche und wird seit 2005 jeweils zum Start der Woche der Frankfurter Buchmesse verliehen. Für die aktuelle Vergabe sind laut Jury insgesamt 233 Titel gesichtet worden. Der dritte Rekord in Folge.
Zweite Vergabe in die Schweiz
Zuletzt war der Preis für das beste deutschsprachige Buch im vergangenen Jahr an die Schriftstellerin Antje Rávik Strubel für ihren Roman «Blaue Frau» verliehen worden.
Kim de l’Horizon ist nach Melinda Nadj Abonji erst die zweite Person aus der Schweiz, die den Deutschen Buchpreis gewinnt. Die Zürcher Autorin erhielt die Auszeichnung 2010 für ihren Roman «Tauben fliegen auf».
Von «unvergesslichen Szenen im ‹Römer›» schreibt die «Frankfurter allgemeine Zeitung» (FAZ) über die Preisverleihung im Rathaus der Stadt. Kim de l’Horizon habe diese «zu einer fulminanten Selbst- und Fremdermächtigung» benutzt.
Bis am Montagabend habe Autor Rainald Goetz fast vier Jahrzehnte für sich in Anspruch nehmen können, die intensivste Performance der neueren deutschen Literatur auf eine Lesungsbühne gebracht zu haben. Das, so der FAZ-Autor, als er sich 1983 beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit einer Rasierklinge die Stirn zum Vortrag seines Textes «Subito» aufritzte.
Auch die «Süddeutsche Zeitung» (SZ) berichtet am Dienstag ausführlich über die Preisverleihung. Und die SZ-Kritikerin reiht den Protest Kim de l’Horizons ebenfalls ein in eine historische Reihe denkwürdiger Dankesreden: «Tränen, ein Lied und einen Rasierapparat in ein und derselben Dankesrede zum Einsatz zu bringen, dürfte die internationalen Standards des Genres sprengen.» Der Anlass habe «keine Wünsche offen» gelassen, «zumindest was die in den Reden gepriesene Vielfalt anging».
Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) wiederum sieht Kim de l’Horizons «Blutbuch» als «brandneuer Blick auf altes Wissen». Fazit der NRD-Kritikerin: «In seiner sprachlichen Extravaganz ist ‹Blutbuch› ebenso beeindruckend wie in seiner dramaturgischen Souveränität.»
Über die Preisvergabe berichten am Montagabend zahlreiche deutsche Medien, wie etwa die «Tagesschau» der ARD oder die Online-Ausgaben des Magazins «Stern» oder der «Zeit».
Laut österreichischen Medien wiederum ist «dieses Debüt (…) jetzt schon ein Sensationserfolg», schreibt etwa der «Kurier» – basierend auf Agenturmaterial. (sat)
Nach zwei Jahren mit starken Einschränkungen wegen der Coronapandemie darf die Frankfurter Buchmesse ab Mittwoch für das Fachpublikum wieder fast wie gewohnt stattfinden. Für die Öffentlichkeit wird die Buchmesse dann ab Freitag öffnen. Angemeldet sind dieses Jahr rund 4000 Aussteller aus 95 Ländern.
Das Preisgeld beträgt 25’000 Euro
Der Deutsche Buchpreis ist mit insgesamt 37’500 Euro dotiert: Der Sieger oder die Siegerin erhält 25’000 Euro, die übrigen fün Autorinnen und Autoren der Shortlist jeweils 2500 Euro. Letztere Prämien gehen in diesem Jahr an Fatma Aydemir («Dschinns»), Kristine Bilkau («Nebenan»), Daniela Dröscher («Lügen über meine Mutter»), Jan Faktor («Trottel») und Eckhart Nickel («Spitzweg).
Nebst Kim de l’Horizons «Blutbuch» war dieses Jahr auch noch ein zweites Werk aus der Schweiz im Rennen gestanden um den Deutschen Buchpreis. Doch Yael Inokai verpasste mit «Ein simpler Eingriff» den Sprung von der Long- auf die Shortlist und damit die Endausmarchung. (wap/dpo/sat/dpa)