Überraschende Reise nach Kiew: Ignazio Cassis trifft Präsident Selenski und spricht über Wiederaufbau
Nach der höchsten Schweizerin, Nationalratspräsidentin Irène Kälin im April, folgte am Donnerstag der Schweizer Bundespräsident: Ignazio Cassis ist überraschend in die Ukraine gereist – dies ein Jahr nach seinem letzten Besuch im osteuropäischen Land. Und gut acht Monate nach dem Angriff Russlands auf das Nachbarland.
Sein Ziel sei, sich vor Ort ein Bild der Kriegssituation, der humanitären Lage und der Vorbereitungsarbeiten für den Wiederaufbau des Landes zu machen, schrieb Cassis auf Twitter. Begleitet wurde er von der Aargauer Mitte-Nationalrätin Marianne Binder-Keller und dem Glarner Ständerat Mathias Zopfi (Grüne).
Am Nachmittag traf sich der Bundespräsident dann auch mit dem ukrainischen Präsidenten. Er habe Wolodimir Selenski seine Unterstützung für die ukrainische Bevölkerung zugesagt, schrieb Cassis auf dem Kurznachrichtendienst. Und man habe über humanitäre Bedürfnisse und die Schweizer Hilfe auf bilateraler und multilateraler Ebene gesprochen.
Gemäss einer Mitteilung des Schweizer Aussendepartements (EDA) traf sich Cassis zudem mit Premierminister Denys Schmyhal und Aussenminister Dmytro Kuelba. Im Zentrum der Gespräche seien die aktuelle Kriegssituation und die humanitären Bedürfnisse gestanden. Ein weiteres Thema waren die Vorbereitungsarbeiten für den Wiederaufbau- und Entwicklungsplan des Landes – dies auch im Nachgang zur Ukraine-Konferenz, die Anfang Juli auf Initiative des Schweizer Aussenministers in Lugano statt fand.
Ausserdem unterzeichnete Bundespräsident Cassis für die Schweiz drei Absichtserklärungen. Dies je in den Bereichen digitale Transformation, vermisste Personen und Forensik, wie es weiter heisst.
Cassis‘ Besuch dient zudem als Vorbereitung für die Expertenkonferenz zum Wiederaufbau der Ukraine, die am 25. Oktober in Berlin stattfinden wird. Eingeladen dazu haben im Namen der G7 der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Neben Selenski soll dort auch Cassis eine Rede halten. Der Schweizer Bundespräsident werde unter anderem über seine Eindrücke aus Kiew referieren, heisst es in der Mitteilung.
Dabei wird er einiges zu berichten haben: Vor Ort zeigte sich Cassis auf Twitter etwa entsetzt über «den Angriffskrieg gegen die zivile Infrastruktur». Gleichzeitig sei er bewegt von der Widerstandsfähigkeit der Ukraine und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern. Seine Eindrücke untermauerte ein Besuch in Vororten von Kiew. Dort seien einerseits die Folgen des Krieges direkt sichtbar, andererseits aber auch wirksamer Wiederaufbau. Dabei tauschte sich Cassis auch mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft zu den konkreten Bemühungen für den Wiederaufbau aus, wie das EDA schreibt.
Anschliessend reiste Cassis bereits weiter nach Moldawien. Dort wird er sich laut seinem Departement mit Präsidentin Maia Sandu über die Auswirkungen des Krieges auf deren Land und besonders über die humanitäre Lage in dem kleinen Land zwischen Rumänien und der Ukraine unterhalten.
Personenschutz aus der Schweiz
Der Besuch von Ignazio Cassis in der Ukraine kam für die Öffentlichkeit überraschend, war offenbar aber schon länger geplant. Auch die sich in den letzten Tagen verschlechternde Sicherheitslage vor Ort konnte den Bundespräsidenten dabei nicht von einer Reise in die Ukraine abhalten. «Das Fedpol und andere Sicherheitsbehörden geben eine Gefährdungsschätzung respektive Lagebeurteilung ab, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügt», sagte Christoph Gnägi vom Bundesamt für Polizei (Fedpol) gegenüber Radio SRF. Auf dieser Grundlage entscheide dann das Departement, ob eine Reise durchgeführt werde oder nicht.
Gnägi erklärte weiter, dass das Fedpol die Delegation begleite in Ergänzung zu den Sicherheitsmassnahmen, welche die Ukraine getroffen habe. «Wir arbeiten auch mit Spezialkräften der Armee zusammen», sagte der Fedpol-Sprecher.
Politik begrüsst Reise in die Ukraine
SVP-Nationalrat Franz Grüter begrüsste die Reise von Cassis nach Kiew. «Es ist gut, wenn die Schweiz mit allen Parteien in diesem Krieg spricht», sagte der Präsident der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats auf Anfrage von CH Media. Allerdings handle es sich momentan um einen sehr gefährlichen und eskalierenden Konflikt.
Im Zentrum der Gespräche müsse deshalb der Versuch der Schweiz stehen, eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Grüter denkt dabei etwa an ein Schutzmachtmandat oder dass sich die Schweiz als Gesprächsort zur Verfügung stellt. «Es braucht vielleicht eine Briefträger-Rolle zwischen den Parteien, welche die Schweiz anbieten könnte», sagte er. Der Wiederaufbau sei jetzt hingegen nicht prioritär – auch vor dem Hintergrund, dass das Land noch immer durch Russland bombardiert wird.
Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (BL) begrüsste auf Twitter ebenfalls, dass Cassis in die Ukraine reiste. Sie betonte die Wichtigkeit, dass er sich ein Bild vor Ort mache. Gegenüber Radio SRF sagte SP-Nationalrat Fabian Molina, wichtig sei, dass der Bundespräsident die Solidarität der Schweizer Bevölkerung vor Ort versichere. Und der Zürcher ergänzte: «Es wäre zu hoffen, dass er auch ein konkretes Angebot in der Tasche hat, wie die Ukraine noch stärker unterstützt werden kann.» Für FDP-Ständerat Andrea Caroni (AR) wiederum ist Cassis‘ Reise «ein starkes Zeichen für eine humanitäre und solidarische Schweiz».
Kritik gab es dagegen von SVP-Nationalrat Roland Büchel. «Es ist überhaupt nicht üblich, dass man solche Einladungen annimmt», sagte der St.Galler gegenüber Radio SRF. Büchel störte sich vor allem an der Empfangsszene, da Cassis am Bahnhof in Kiew vom stellvertretenden Aussenminister begrüsst wurde. «Gerade in Ländern aus der ehemaligen Sowjetunion ist die Hierarchie sehr streng», sagte Büchel. «Da lässt man sich nicht so vorführen. Das ist einfach nicht gut.»
Deutscher Bundespräsident reist aus Sicherheitsgründen nicht nach Kiew
Ursprünglich wollte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag ebenfalls in die Ukraine reisen. Geplant war unter anderem ein Treffen mit Selenski. Steinmeier verschob die Reise jedoch kurzfristig aus Sicherheitsgründen – und telefonierte stattdessen mit dem ukrainischen Präsidenten.
Dafür erntete der deutsche Bundespräsident teilweise harte Kritik – zum Beispiel von Paul Ronzheimer, dem stellvertretenden Chefredakteur der «Bild»-Zeitung. Dieser forderte auf Twitter eine Erklärung, weshalb die Schweiz einen Besuch durchführen kann, Deutschland aber nicht.