18-jähriger Ladendieb wird doch eingebürgert: Verwaltungsgericht bezeichnet Ablehnung des Gesuchs im Grossen Rat als willkürlich
«Ich hoffe, es gibt eine Beschwerde»: Das sagte SP-Grossrätin Lea Schmidmeister am 14. Juni, als der Grosse Rat das Einbürgerungsgesuch eines 18-Jährigen ablehnte. Der junge Mann war elf Monate zuvor per Strafbefehl wegen mehrfachen geringfügigen Diebstahls zu einer Busse von 100 Franken verurteilt worden. Der Einbürgerungskandidat hatte im Frühling 2021 in einem Manor-Warenhaus im Aargau einen USB-Netzadapter, ein Hemd und zwei T-Shirts gestohlen.
Für die bürgerliche Mehrheit des Grossen Rats war dies Grund genug, dem jungen Mann den Schweizer Pass zu verwehren. «Wir übersteuern hier heute vielleicht die Rechtsprechung. In gleich gelagerten Fällen gingen die Einbürgerungen durch», kritisierte Grossrätin Schmidmeister. Und ihre Hoffnung wurde erfüllt: Rechtsanwalt Markus Leimbacher, der einst selber für die SP im Grossen Rat sass, reichte beim Verwaltungsgericht im Namen des abgelehnten Kandidaten eine Beschwerde ein.
Verwaltungsgericht heisst Beschwerde gegen verweigerte Einbürgerung gut
Und diese wurde gutgeheissen, wie aus einem Urteil hervorgeht, das am Montag publiziert wurde. Das Verwaltungsgericht hat den negativen Entscheid des Grossen Rates nicht nur aufgehoben, sondern zugleich entschieden, dem Mann das Schweizer Bürgerrecht zu erteilen. Das Gericht stuft die Ablehnung des Gesuchs durch das Kantonsparlament «als geradezu willkürlich» ein und spricht von einem Ermessensmissbrauch durch den Grossen Rat.
Im Parlament wurde die Einbürgerung des jungen Mannes mit 74 zu 50 Stimmen abgelehnt, neben SVP und FDP sprachen sich auch Mitglieder der Mitte-Fraktion dagegen aus. Zur Begründung seines Entscheides führte der Grosse Rat namentlich aus, der Beschwerdeführer erfülle aufgrund des mehrfach begangenen Diebstahls die Voraussetzungen für eine Einbürgerung nicht. Die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sei ein wesentlicher Bestandteil der erfolgreichen Integration – dies sei im aktuellen Fall nicht gegeben, fand die Ratsmehrheit.
Grosser Rat beurteilte mehrfachen Diebstahl als gravierend
Gestützt auf eine entsprechende Bestimmung in der Bürgerrechtsverordnung beurteilte der Grosse Rat den Umstand, dass es sich um einen mehrfachen Diebstahl handle, als besonders gravierend. Zudem seien die Taten während des Einbürgerungsverfahrens begangen worden. Dies könne durch die positiven Elemente der Integration wie die aktuelle Ausbildung nicht aufgewogen werden, wurde im Parlament argumentiert.
Dagegen wendet Rechtsanwalt Leimbacher ein, «dass in Bezug auf die Schwere und/oder Häufigkeit von Delikten eine gewisse Bagatellschwelle überschritten sein müsse, damit willkürfrei auf eine ungenügende Beachtung der Rechtsordnung geschlossen werden könne». Dies sei im aktuellen Fall seines Mandanten nicht gegeben, vielmehr handle es sich «um einen einzigen Lebenssachverhalt».
Einbürgerungskandidat und Gericht sehen nur begrenztes Fehlverhalten
Im Zeitraum von drei Tagen im Frühling 2021 habe der junge Einbürgerungskandidat – unter Miteinfluss von vermeintlichen Freunden – ein geringfügiges Vermögensdelikt begangen. Damit habe er sich nur eine Übertretung zu Schulden kommen lassen, argumentiert Leimbacher. Und er betont, weder vor noch nach diesem Vorfall sei es zu anderweitigen Straftaten seines Mandanten gekommen. Das Gericht schreibt, es sei «von einem auf einen sehr beschränkten Zeitraum begrenzten Fehlverhalten aus jugendlichem Leichtsinn auszugehen».
Das Verwaltungsgericht hält fest, dass grundsätzlich jede Verletzung von Rechtsnormen relevant sein könne, wenn es um eine Einbürgerung gehe. Für die Kandidaten einen übermässig strengen Massstab anzulegen und eine in jeder Hinsicht «blanke Weste» zu verlangen – also überhaupt keine Gesetzesverstösse – sei andererseits unhaltbar.
Verwaltungsgericht: Grosser Rat entschied einseitig und undifferenziert
Dass der Grosse Rat die vom Beschwerdeführer verübten Übertretungen in seinen Entscheid einbezog, ist laut Verwaltungsgericht nicht zu beanstanden. Allerdings hätten sich die Erwägungen des Parlaments zu einseitig und undifferenziert auf das Kriterium der mehrfachen Begehung abgestützt. Zudem habe der Grosse Rat auch Einbürgerungshandbücher des Staatssekretariats für Migration bzw. des Kantons Aargau teilweise falsch interpretiert.
In diesem Zusammenhang sei ein expliziter Hinweis im kantonalen Einbürgerungshandbuch von Bedeutung, heisst es im Gerichtsurteil. Demnach sollten Übertretungen nur sehr zurückhaltend berücksichtigt und einzelne geringfügige Verfehlungen in der Gesamtwürdigung nicht übermässig gewichtet werden.
21. Februar: Die Einbürgerungskommission des Grossen Rats empfiehlt das Gesuch des Mannes mit 4 zu 3 Stimmen zur Ablehnung.
22. März: Der Grosse Rat beschliesst auf Antrag von SP-Vertreterin Luzia Capanni, das Gesuch an sich zu ziehen – damit entscheidet das Ratsplenum über die Einbürgerung, nicht die Kommission.
19. Mai: Die Einbürgerungskommission schwenkt um und empfiehlt das Gesuch des Mannes mit Stichentscheid von Präsident Sander Mallien (GLP) nun zur Annahme.
14. Juni: Der Grosse Rat lehnt das Einbürgerungsgesuch mit 74 zu 50 Stimmen ab.
24. Oktober: Das kantonale Verwaltungsgericht heisst eine Beschwerde des 18-Jährigen gegen seine Nichteinbürgerung gut und erteilt dem jungen Mann das Bürgerrecht.
Und der Fall ist mit dem Verwaltungsgerichtsurteil noch nicht definitiv abgeschlossen – dieses kann innerhalb von 30 Tagen beim Bundesgericht angefochten werden. Sander Mallien, der Präsident der Einbürgerungskommission, sagt auf Anfrage, der Entscheid werde an der nächsten Sitzung besprochen. Weil diese Besprechung noch ausstehend sei, könne er sich nicht zu einem möglichen Weiterzug äussern.
Ratssekretärin Rahel Ommerli teilt auf Anfrage mit, das Urteil werde in den zuständigen Gremien – also der Einbürgerungskommission und dem Grossratsbüro – traktandiert. «Der Grosse Rat wird ebenfalls in Kenntnis gesetzt», sagt Ommerli.