«Girl Gang»-Regisseurin Susanne Regina Meures: «Du wirst nicht einfach Influencerin von heute auf morgen»
Vier Jahre lang begleitete Susanne Regina Meures die Karriere der jungen Berliner Influencerin Leonie. Unter dem Namen Leoobalys folgen der heute 18-Jährigen inzwischen 1,6 Millionen Menschen auf Instagram und 1,4 Millionen auf Tiktok, das sind beeindruckende Zahlen. «Girl Gang», der Dokumentarfilm der Deutsch-Schweizer Regisseurin Meures, gibt erhellende Einblicke in ein unkonventionelles Familienleben zwischen Engagement und Management, beleuchtet ein Leben unter ständigem Produktionsdruck und versetzt uns in die Denkwelten begeisterter Fans.
Träume und Enttäuschungen, Hysterie und Hass: Die Extreme der Social-Media-Welt liegen nah beieinander und werden in ihrer ganzen Wucht sichtbar; irritierend, manchmal erschreckend. Der Film ist ein dunkles Märchen, das eine Moral jedoch nicht zwingend aufdrängt. Wie man auch zum Phänomen der Influencer steht: Kalt lässt «Girl Gang» sein Publikum nicht. Wir haben die Regisseurin am diesjährigen Zurich Film Festival zum Gespräch getroffen.
Frau Meures, Sie selbst sind mit nur einem Instagram-Account nicht ausgesprochen präsent in den sozialen Medien. Wie kamen Sie auf die Idee, für so einen langen Zeitraum den Aufstieg einer Influencerin zu begleiten?
2017 sass ich in einem Park und habe Mädchen dabei beobachtet, wie sie Pantomimen und Lip-Sync-Tänze gemacht und sich dabei gegenseitig gefilmt haben. Mittlerweile kennen wir Tiktok, aber damals hatte ich das Gefühl, dass ich ein neues Universum der Selbstdarstellung und Selbstreflexion betrete.
Und dann haben Sie Leonie gefunden …
Ich habe mit über 160 Mädchen gesprochen, auf der Strasse, Schulhöfen, in Parks, über Instagram. Leonie bin ich nach ungefähr sechs Monaten an einer Jugendmesse begegnet. Ich hatte anfänglich geplant, einen Film über Leonie und ihre Freundinnen zu machen. Dann habe ich aber relativ schnell gemerkt, dass die Dynamiken innerhalb der Familie einen aussergewöhnlichen Einblick in den gegenwärtigen Zeitgeist eröffnen. So hat sich mein Fokus langsam verlagert. Trotzdem habe ich den Titel beibehalten, weil ich im Zuge dessen begriffen habe, dass die Girl Gangs von heute nicht mehr die Mädchen im Park sind, sondern die Mädchengruppen, die sich im Internet formieren.
Ich würde nicht mit Leonie tauschen wollen: Sie ist ein minderjähriges Mädchen, die in ihrer Freizeit ständig neue Inhalte schaffen muss, ihre Jugend zum Teil daran verliert und oft gestresst und überfordert wirkt.
Leonie hat mit 13 Jahren mit Social Media angefangen, war kreativ, überaus fleissig, wurde schnell populär. Als ich sie mit vierzehn kennen gelernt habe, hatte sie eine halbe Million Follower. Irgendwann mussten die Eltern mithelfen, auch weil sie keinen geeigneten Manager finden konnten. Dass sie ihre Jugend daran verliert, habe ich nicht so empfunden. Leonies Jugend war sicher anders, aussergewöhnlich und hat ihr andere Erfahrungen beschert als dem Grossteil der Jugendlichen. Dass es Eiskunstlauf- oder Tenniseltern gibt, ist auch kein neues Phänomen. Doch wenn es um Influencer geht und nicht um den jungen Pianisten, der von der Mutter sieben Tage die Woche zum Klavierunterricht gefahren wird, wird gleich die Sinnhaftigkeit in den Raum gestellt.
Nicht unbedingt, die Pianisten- oder Tennisspieleltern ernten ebenfalls Kritik …
Das darf man ja auch hinterfragen. Aber das Aussergewöhnliche entsteht nur durch aussergewöhnliche Biografien. Sonst gäbe es keine Steffi Graf. Ich möchte wirklich nicht bewerten, ob jemand Bälle perfekt über ein Netz schlägt oder sich jeden Tag neue Sachen wie kreative Clips und Bilder einfallen lässt, um die Zuschauer zu begeistern. Ich empfinde das als eine Fähigkeit, die nicht so sinnbefreit ist, wie viele meinen.
Können Sie nachvollziehen, warum Leonies Videos von so vielen Jugendlichen gesehen werden?
Es ist eine Kombination von vielem. Ihr Content ist abwechslungsreich, humorvoll, und sie nimmt ihre Zuschauer mit in ihren Alltag. Sie wird gefühlt zu einer Freundin der Fans, gerade weil sie so viel teilt. Leonies Erfolg ist ihre Erreichbarkeit. Die Fans können ihr Nachrichten schicken. Sie ist scheinbar so nah, dass sie sie fast berühren können. Leonie antwortet vielleicht nicht auf jede Nachricht, die sie erhält, aber die mögliche Korrespondenz zwischen Fan und Idol installiert eine noch nicht bekannte emotionale Bindung. Instagram ist ein bisschen wie ein digitaler Schulhof und Leonie das beliebte Mädchen, das nur einen Schritt weiter ist als man selbst. Die Fan-Mädchen projizieren ihre Träume von einem besseren Ich, und Leonie spiegelt das perfekt wider, gerade weil sie ihnen so ähnlich ist.
«Girl Gang» ist für mich auch ein Film über Eltern, die den Traum ihrer Tochter leben wollen …
Ich halte es nicht für verwerflich, die Leidenschaft des Kindes zu unterstützen und hinzu vielleicht auch noch selber Spass daran zu haben. Diese Doppelrolle als Eltern und Manager ist aber auch nicht immer einfach. Einerseits als Eltern Grenzen setzen, erziehen, aber gleichzeitig als Manager Leonie ermahnen, Aufträge zu erledigen. Das sind teilweise paradoxe Dynamiken, die nicht immer einfach zu bewältigen sind.
Sie sprechen viel positiver über die Auswirkungen eines Influencer-Lebens, als ich selbst es im Film wahrgenommen habe oder wie «Girl Gang» von etlichen Menschen rezipiert wird …
Die Leute sind nicht schockiert, aber sicher aufgewühlt, weil sie einen Einblick bekommen in etwas, das sie nicht kannten. Zu dem sie aber eine klare Meinung haben. Das Bildungsbürgertum echauffiert sich über andere Lebensansätze ja nur zu gerne. Sie gehen nicht diesen einen emphatischen Schritt weiter und überlegen sich Dinge wie: Woher kommt die Familie? Was löst diese Dynamiken aus? Ich bekomme auch viele Reaktionen, dass der Film grosses aufklärerisches Potenzial habe. Viele Leute empfinden es als sehr bereichernd, dass die Familie so offen und ehrlich ihren Alltag zeigt.
Ich leugne nicht, dass ich das vermutlich genauso alles mitmachen würde, wenn ich Influencer wäre. Aber genau deshalb finde ich das problematisch, weil der Preis so hoch ist …
Wir haben doch nicht das Recht, über andere zu entscheiden, wie sie ihre Lebensträume verwirklichen. Wir streben alle nach einem besseren Leben, nach Entwicklung. Und wie wir das machen, das möchte ich jedem selbst überlassen.
Was würden Sie Ihrem Kind raten, wenn es Influencer werden will?
Ich würde das nicht ernstnehmen. Weil ich weiss, wie viel Zeit und Arbeit dahintersteckt, bis man eine grosse Reichweite hat. Du wirst nicht einfach Influencerin von heute auf morgen.
Ich behaupte ja gar nicht, dass keine Arbeit dahintersteckt …
Leonie ist nicht nur ein Mädchen, das die ganze Zeit Produkte in der Hand hält. Sondern sie erschafft ganz viel anderen Content. Vor allem am Anfang mit 13 oder 14 Jahren war es ein leidenschaftliches Spiel. Natürlich dürfen wir nicht aussen vor lassen, dass es ein riesiger Antrieb ist, wenn Leute ein Like setzen. In Leonies Fall Zehntausende. Die digitalen Medien haben aus uns allen Dopamin-Junkies gemacht.
Also würden Sie derjenigen Kritik, die Influencer als oberflächlich und banal sieht, entgegnen: Bleibt mal locker, die Jugend hat immer schon ihr eigenes Ding gemacht. Das ist alles nicht so schlimm, kehrt mal lieber vor der eigenen Haustür?
Die Menschen, die man heute als Influencer beschreibt, sind so vielfältig wie das Leben an sich. Sich die sozialen Medien wegzuwünschen wäre absurd. Das ist Kulturpessimismus. Ich erinnere mich an die Zeitungsartikel aus den 20er-Jahren über das neue Medium Radio mit den Warnschlagzeilen: Haltet die Kinder vom Radio fern! Viel wichtiger ist es, ein Auge auf die Screentime zu haben, sich zu disziplinieren. Alles ist immer eine Frage des Masses.