Klaus Merz ehrt Melinda Nadj Abonji: «Worte, getragen von menschlichem Atem»
Um mich vorzubereiten / auf die Belagerer / lernte ich / mein Herz immer kürzer halten // Das dauerte lange / Jetzt nach Jahren der Übung / versagt mein Herz / und ich sehe im Sterben das Land // Als hätte nur ich / mich belagert / von innen / und hätte gesiegt:// Alles leer / Weit und breit / keine Sturmleiter / keine Feinde
Das Gedicht Bereit sein war alles findet sich in Erich Frieds Buch «Liebesgedichte». Ich hatte es 1979 angekreuzt, im letzten Frühjahr liess es mich erneut innehalten. – Und die ungeheuerlichen Nachrichten vom Krieg gegen die Ukraine verschlugen uns am Mittagstisch, wie seit Wochen schon, wiederum die Sprache.
Auf die Gefahr einer allfälligen Belagerung von innen, auf die uns der dem Zweiten Weltkrieg knapp entronnene Dichter Erich Fried 25 Jahre nach Kriegsende in seinem Gedicht über die Liebe, klarsichtig und poetisch hinweist, auf die Errichtung innermenschlicher Fronten also, nun doch und schon wieder die Belagerung von aussen. Mit Sturmleitern, Panzern, Bomben, dem ganzen Arsenal menschlicher Grausamkeiten – und mit einer wachsenden Feindlichkeit in und rund um uns herum: So jedenfalls kommt es mir zuweilen vor.
Vom Sinn des Erzählens – trotz allem
Was bleibt uns also heute noch zu tun mit lediglich einem Bleistift in der Hand, über eine Tastatur gebeugt, angesichts einer für jegliche Verheerung hoch gerüsteten Welt? Es bleibt uns noch immer das präzise und innige Erzählen. Vom Krieg und vom Frieden. Vom Sterben und von der Liebe. Vom Gespräch über alle Gespaltenheiten und Risse hinweg. – Wahrgenommen und aufgezeichnet aus einem fragilen «Dazwischen» heraus, der eigentlichen Heimat ernsthaft Schreibender, zu denen auch die heurige Erich Fried-Preisträgerin Melinda Nadj Abonji gehört.
Und diese Auszeichnung ist keiner saisonalen «Shortlist» geschuldet, sie geht vielmehr an eine langsame Brüterin. Geboren 1968 in der nordserbischen Provinz Vojvodina, wuchs Melinda Nadj Abonji erst bei ihrer Grossmutter auf, bevor sie als Fünfjährige, zusammen mit ihrem älteren Bruder, in die Schweiz geholt wurde.
Ihre Familie hatte zur ungarischen Minderheit im damaligen Jugoslawien bzw. Serbien gehört. 1973 endlich bei ihren emigrierten Eltern in der noch immer auf Überfremdung fixierten Schweiz angekommen, lernte Melinda die Sprache ihrer neuen Umgebung so schnell, dass sie ihren Eltern bald als kleine Dolmetscherin und zusätzliche Arbeitskraft gut und von früh auf beistehen konnte. Nach der Matura studierte sie dann Germanistik und Geschichte in Zürich, wo sie mit ihrem vierzehnjährigen Sohn Juri bis heute lebt.
Sprache ist ihr immer auch Musik
Melinda Nadj Abonji, die auch Musikerin ist, Geige und Gesang, lässt sich Zeit beim Schreiben. Damit sich ihre Sätze setzen können und zu eigentlicher Sprach-Musik werden, die entlang der menschlichen Abgründe ganz eigen und virtuos zum Tanz aufspielt.
In «Im Schaufenster im Frühling» erzählt uns die Autorin die Geschichte von Luisa Amrein, von ihrem schmerzhaft schwierigen Erwachsenwerden. Und der eigene Erzählton ist schon da, eindringlich, rhythmisch, widerspenstige Haken schlagend, ein beinahe atemloses Erinnerungsstakkato hereindrängender Wirklichkeiten.«Tauben fliegen auf», hiess der Titel ihres zweiten Romans, er erzählt von der Arbeits-Emigration in den vergangenen Siebzigerjahren aus Jugoslawien in die Schweiz und wurde 2010 mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis zugleich ausgezeichnet. Die Autorin hielt ihre luzide Sprachperformance durch bis zum Schluss.
2017 dann, ein Vierteljahrhundert nach einem der letzten, rasch vergessenen oder verdrängten Kriege im alten Europa richtet Melinda Nadj Abonji, fast ein wenig aus der Zeit gefallen, wie mir damals schien, in ihrem Roman «Schildkrötensoldat» den Blick noch einmal zurück auf die Vojvodina. Und auf einen vor seiner Zeit Verstorbenen.
Ein Erzählen wie zartes Handauflegen
Recherchierend, nein, sozusagen Hand in Hand sind wir unterwegs mit der Erzählerin Anna und Zoltan Kertész, ihrem epileptischen Protagonisten, der im Jugoslawischen Bürgerkrieg von 1991 zwangsrekrutiert wird. Ein scheuer und verletzlicher Phantast, Eigendenker und Freund aus Kindertagen. «…um seinen Mund spielte ein winziges Lächeln, und die Maiskolben hatten Augen, die Hühner applaudierten, der Staub wirbelte auf vor Begeisterung», notiert Anna auf dem Weg zu dessen Grab in der alten Heimat. Und sie legt bei dieser Spurensuche und Reverenz-Erweisung immer wieder Zeugnis ab vom singbaren Rest des Geheuren im Ungeheuren, das uns umgibt und letztlich, so hoffen wir doch, auch ausmache.
Der Erich-Fried-Preis wird von der Internationalen Erich Fried Gesellschaft für Sprache und Literatur in Wien und vom österreichischen Bundeskanzleramt in Gedenken an den Lyriker und Essayisten Erich Fried vergeben. Der mit 15.000 Euro versehene Literaturpreis wurde erstmals 1990, zwei Jahre nach dem Tode Frieds, verliehen. Seitdem bestimmt jedes Jahr das Kuratorium der Gesellschaft einen Juror, der alleine den Gewinner des Erich-Fried-Preises bestimmt.
In einem Zustand hellwacher Müdigkeit dreht sich die Erzählerin immer wieder, einer Erdsonde gleich, in ihren Stoff hinein, bis uns nach dem Durchbrechen der kalten, der harten Erd- und Gesteinsschichten aus dem Innersten von Zoltan und Anna ein Hauch reiner menschlicher Wärme entgegenströmt: Es ist wohl unsere einzige Rohstoffreserve, die uns eines Tages vielleicht doch noch aus unseren tödlichen Belagerungen und Kriegen heraushelfen kann: Worte, getragen vom menschlichen Atem.
Dem empathischen Hineinversetzen in die Innen- und Gegenwelt ihres Protagonisten – ohne meine Augen herauszunehmen, habe ich mir deine Augen eingesetzt – entspricht das zarte Handauflegen der Erzählerin auch von aussen. Sprachwach, mit grosser Umsicht und ganzer Gegenwärtigkeit, zu der auch ein schlüssiger Rückgriff auf Ödön von Horvaths «Ein Kind unserer Zeit» gehört:
«Denn wir lieben den Frieden», schrieb Horvath 1938, «genau wie wir unser Vaterland lieben, nämlich über alles in der Welt. Und wir führen keine Kriege mehr, wir säubern ja nur.» – Dieses gespenstische Zitat aus Horvaths Roman steht in Melinda Nadj Abonjis «Schildkrötensoldat». Ich las es bei meiner ersten Lektüre vor fünf Jahren vor allem als Reverenz an den grossen Autor und lese es heute, zweimal leer schluckend, als Menetekel, als aktuellen Mahnruf über alle Zeiten hinweg. 1938 war übrigens das Jahr, als Erich Fried von Wien nach London floh.
Ja, es sind auch diese «Zusammenhänge», die gute Literatur auszeichnen. In unserem Fall die Literatur einer überzeugenden Ton-Setzerin. Und dazu braucht es einen buchstäblich langen Atem, um diesen Ton aus- und hochzuhalten.