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Diese Kunst soll stören: «Mir war nicht bewusst, dass ich so viele Regeln breche»

Olivia Wiederkehr wurde an der Aargauer Jahresausstellung als Gastkünstlerin ausgezeichnet. Über ihre Arbeit soll das Publikum stolpern.

«Ich bin gelangweilt von der Taubheit.» Mit dem ersten Satz macht Olivia Wiederkehr klar, worum es ihr geht. Die Künstlerin aus Brugg hat soeben an der Aargauer Jahresausstellung den Jurypreis erhalten und wird damit im nächsten Jahr einen Gastauftritt an der «Auswahl» haben. Kunst ist ihr Zugang zu mehr Empfindsamkeit:

«Wir bewegen uns oft wie durch Watte und begegnen unserer Umwelt mit zu wenig Wachsamkeit.»

Die Künstlerin Olivia Wiederkehr (1975) aus Brugg.
zvg 

Also stellt sie sich – und ihre Kunst – dem Ausstellungspublikum in den Weg. Im Aargauer Kunsthaus stehen Expeditionszelte im ganzen Haus verteilt, am Treppenaufgang, im Türrahmen, gleich neben dem Eingang. Schon seit etwa zehn Jahren arbeitet Wiederkehr immer wieder mit diesen «Zellen», wie sie sie nennt. «Sie sind gemacht für extreme äussere Einflüsse, denen man sich aussetzt. Auf einer Expedition stellt man sich bewusst unbekanntem Terrain», so Wiederkehr. Darum geht es auch in ihren Arbeiten, die sie oft kollaborativ, gemeinsam mit anderen Künstlerinnen oder Tänzern, erarbeitet. Sie such darin die Auseinandersetzung, die Diskussion – oder noch besser: den Dialog.

Frei ist man, wenn man «Nein» sagen kann

Studiert hat Wiederkehr (1975) ursprünglich Bühnenbild in Berlin, bevor sie das Kunststudium in mit Bachelor und Master Basel und Zürich abschloss. Reisestipendien und Ausstellungsprojekte führten sie in den letzten Jahren nach Russland und nach Griechenland. Dort entwickelte sie auch das Manifest, das in ihren Performances, Installationen und Skulpturen den Ton vorgibt. Ausgehend von Hanna Arendts Essay «Die Freiheit, frei zu sein» fordert sie darin die Freiheit, «Ja», aber auch «Nein» zu sagen und eben: die Freiheit, Räume zurückzuerobern.

Die Zelte von Olivia Wiederkehr und dem Theater HORA an der Auswahl 22.
Zvg

Dazu passen die Zelte, die zugleich Einladung sind, sich auf die Expedition einzulassen, die Reissverschlüsse sind gelöst, der Eingang geöffnet. Dennoch brauchen viele Gäste einen Anstoss, in die Zelte hineinzusteigen. «Man ist sich nicht gewohnt, dass man Kunst anfassen darf, und nun soll man sogar in sie hineinsteigen», so Wiederkehr. An ihren Wänden stehen intime Gedanken zu Räumen und Freiräumen, öffentlichen, wie privaten. Sie stammen von den Schauspielerinnen und Schauspielern des Theaters HORA, dem einzigen professionellen Theater in der Schweiz, bei dem Menschen mit einer geistigen Behinderung auf der Bühne stehen. Während zweier Wochen haben sie gemeinsam mit Olivia Wiederkehr philosophiert und performt, um sich diese Zelte zu eigen zu machen. «Es war für mich ein ganz neues Universum, mit einem anderen Takt und Rhythmus. Anfangs wollte ich voller Eifer voranpreschen, bis ich verstanden habe, dass in der Langsamkeit viel mehr passiert.» Das Thema der Inklusion und Exklusion vertreten die Schauspieler mit Vehemenz, jeden Tag müssen sie sich ihm stellen. Dies verlangen sie nun auch vom Ausstellungspublikum.

Manche Regeln müssen gebrochen werden

«Sie wollen präsent sein», erzählt Wiederkehr, «und sie wollten von Anfang an ‹gewinnen›. Also sah ich es in meiner Verantwortung, ihnen eine Präsenz zu verschaffen, an der man nicht vorbeikommt.» Die Zelte platzierte sie als bewusste Stolpersteine. Dies sei nicht ganz einfach gewesen, wegen Feuerschutz und Gebäudetechnik seien manche Standorte nicht möglich gewesen.

«Es schien mir wie die grosse gesellschaftliche Debatte im Kleinformat, in der es heisst: Inklusion ja bitte – aber nur solange wir unsere Normen und gewohnten Strukturen nicht ändern müssen. Mir war zuvor gar nicht bewusst, dass die Arbeit so viele Regeln bricht.»

Die Jury von Kunsthaus und Kuratorium honorieren mit der Auszeichnung den Mut und das Selbstvertrauen, mit dem sich die Künstlerin insbesondere politischen Themen annimmt. Dies wird sie in ihrer ersten eigenen Publikation, die Ende 2023 erscheinen wird, und auch als Gastkünstlerin der nächsten «Auswahl» erneut zeigen. «Ich möchte das Projekt vertiefen», verrät die Künstlerin. Sie arbeitet als Performerin stets aktuell, bis zur Ausstellung im nächsten Dezember wird sich vermutlich einiges weiterentwickeln.