«Ein dreifaches Hoch der Nationalbahn!»
«Sei willkommen Eröffnungstag // Ein Lebehoch sei dir gebracht; // Jetzt haben wir eine Eisenbahn, // Wer keine hat, ist übel dran.» Mit diesen Worten beginnt das Zofinger Tagblatt in der Ausgabe vom 6. September 1877 die Berichterstattung über die Eröffnung der Nationalbahnstrecke Zofingen–Baden. In euphorischen Worten feiert der Redaktor die Eröffnungsfahrt, von der er Zeuge war: «Wie nicht anders möglich, gestaltete sich gestern die Eröffnungsfeier der Nationalbahnstrecke Zofingen–Baden für sämmtliche an dieser Linie gelegenen Gemeinden zu einem ächten Volksfeste.» Doch die Strophe «Wer keine hat, ist übel dran» wird sich innert weniger Monate ins Gegenteil verkehren. Dazu später mehr.
Der Festzug der Schweizerischen Nationalbahn (SNB) startete um 7.30 Uhr in Zofingen mit einer «reichbekränzten» Lokomotive und erreichte den Endpunkt Baden um 9 Uhr. Dazwischen hatte der Zug an allen Stationen auf der neuen Strecke weitere Gäste aufgenommen. In Baden stiessen Regierungsräte der Nationalbahn-Kantone Zürich, Thurgau, Schaffhausen und Aargau sowie Abgeordnete der Stadt Winterthur, wo die SNB ihren Sitz hatte, zur Festgesellschaft. Der Festzug setzte sich um 9.50 Uhr mit allen Gästen an Bord in Bewegung und machte sich auf den Weg nach Zofingen. Unterwegs machte der Zug immer wieder länger Halt an den Stationen, die alle festlich geschmückt waren. Nur Zofingen habe vor banger Erwartung des Festzuges vergessen, sich zu dekorieren, schreibt der Berichterstatter. Und weiter: «Das Schlussbankett fand in der geräumigen Turnhalle statt und zählte gegen 350 Theilnehmer. Herr Grossrath Schatzmann eröffnete dasselbe und hiess die Anwesenden, wie er glaubte, im Einverständnisse mit der Bürgerschaft, mit warmen Worten willkommen. […] Es folgte als nächster Redner Herr Landammann Frey von Aarau, der die Männer, welche an der Spitze des Nationalbahnunternehmens gestanden sind, hochleben liess. Herr Regierungsrath Sieber aus Zürich brachte den ersten Toast auf Herrn Nationalbahn-Direktor Ziegler, den zweiten auf das Zusammenwirken aller gutgesinnten Männer und den dritten auf die Quadrupelallianz der vier Städte Winterthur, Baden, Lenzburg und Zofingen. Herr Nationalrath Bleuler-Hausheer von Winterthur brachte sein Hoch dem Ausbau der Schweizerischen Nationalbahn. Herr Gemeinderath Bachmann von Zofingen toastirte auf die Fortsetzung der Linie Zofingen–Lyss. Hr. Nationalrath Künzli von Ryken auf den Ausbau der Nationalbahn, die Forterhaltung der bewiesenen Thatkraft; er wünschte, dass die gleiche Thatkraft auch in politischer Beziehung Anwendung finde. Allgemeiner Beifall folgte diesen kernigen Worten.
Dieser Text stammt aus der Sonderbeilage «150 Jahre Zofinger Tagblatt» vom 1. Februar 2023, in der jeweils ein Ereignis aus jedem Jahrzehnt seit der ersten Ausgabe des ZT vertieft betrachtet wird.
Herr Stadtrath Blattner toastirte auf die Bundesgenossenschaft der Gemeinden von Konstanz und Singen bis nach Zofingen und Lyss. Zu allerletzt betrat noch Herr Nationalrath Bürli von Baden die Rednerbühne und hob unter vielem Applaus hervor, dass, wenn wir die Nationalbahn so lieb haben wie unsere Frauen, wir uns durch die drückenden Verhältnisse durcharbeiten werden. […] Gegen 5 Uhr verliessen uns die werthen Gäste wieder.» Die Berichterstattung schloss mit einem «dreifachen Hoch der Nationalbahn».
Das «Todesurtheil» wurde über die SNB gefällt
Doch nur wenige Monate später, im Januar 1878, kann die SNB die Zinsen auf die ausgegebenen Obligationen nicht mehr bezahlen; mehrere Gläubiger leiten ein Betreibungsverfahren ein. Das ZT berichtet am 11. und 12. Januar 1878 von der «finanziell schwierigen Lage» des Unternehmens, während sich im Februar die Situation zuspitzt: «Es ist kaum verständlich, dass die Gemeinden an der Nationalbahn so gemüthlich zuschauen, wie das Verhängnis über die Nationalbahn allmälig hereinbricht und unabwendbar wird» (ZT vom 13. Februar 1878). Am 20. Februar 1878 ordnet das Bundesgericht die Zwangsliquidation der SNB an. Das ZT schreibt dazu zwei Tage später: «Von Lausanne kommt die unerfreuliche Kunde, dass vom Bundesgericht über die Nationalbahn der Konkurs eröffnet worden sei.» Und am 23. Februar: «Das Unglaubliche ist geschehen.» Das Bundesgericht habe das «Todesurtheil» über die Nationalbahn gefällt, «trotzdem alle Creditoren, welche die Liquidation verlangt hatten, ihr Begehren zurückgezogen hatten» (ZT vom 25. Februar 1878).
Zofingen steht vor einem riesigen Schuldenberg
Die Bahn fuhr mit reduziertem Fahrplan weiter, die beteiligten Gemeinden mussten die Betriebsdefizite übernehmen. Diese bildeten daraufhin ein interkantonales Komitee, das die Bahn entweder sanieren oder zu möglichst guten Bedingungen weiterverkaufen sollte. Am 30. August 1879 ersteigerte es die Anlagen für 4,41 Millionen Franken, konnte aber die Kaufoption wegen fehlender finanzieller Mittel nicht ausüben. Zwei Jahre später, am 15. März 1880, ersteigerte die Konkurrentin Nordostbahn (NOB) die Konkursmasse der SNB, bezahlte aber nur 14 Prozent des ursprünglichen Wertes. Zofingen und die anderen an der SNB beteiligten Städte und Gemeinden bleiben teils auf Millionenschulden sitzen, die sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein abzahlen mussten.
Die vier SNB-Garantiestädte Zofingen (SNB-Beteiligung: 5,87 Millionen Franken), Lenzburg (2 Millionen), Baden (2 Millionen) und Winterthur (8 Millionen) konnten erst 1935 die letzte Rate eines Bundesdarlehens zurückzahlen; und am 2. Februar 1943 liessen die Zofinger unter notarieller Aufsicht die letzten Obligationen im städtischen Gaswerk verbrennen, womit alle Schulden aus dem Nationalbahn-Debakel getilgt waren; Winterthur hingegen konnte erst 1952 die letzte Rate einer Hypothekaranleihe zurückzahlen – lange nachdem der letzte Zug der SNB oder gar der NOB gefahren war. Denn seit dem 1. Januar 1902 läuft die ehemalige Nationalbahnstrecke unter dem Regime der Schweizerischen Bundesbahnen SBB.