Grossartige Aussicht aus dem «Luftungetüm»
Am 1. Mai 1896 eröffnete Bundespräsident Adrien Lachenal, begleitet von vier seiner Amtskollegen, die Schweizerische Landesausstellung in Genf. Das Zofinger Tagblatt widmete diesem Ereignis bereits in der Ausgabe vom 1. Mai einen Artikel auf der Frontseite und setzte sich mit einigen der Kritikpunkte auseinander, die schon vor der Eröffnung der Ausstellung laut geworden waren: «Es laufe bei der ganzen Geschichte etwas viel trügerischer Schein und Humbug mit und man sieht da und dort das Seziermesser der Kritik recht schneidig anlegen. Wir wagen es nicht, über solche Vorwürfe uns zu äussern, ehe und bevor wir uns durch eigenen Augenschein überzeugen oder durch kompetente Urteile uns belehren könnten.»
Dieser Text stammt aus der Sonderbeilage «150 Jahre Zofinger Tagblatt» vom 1. Februar 2023, in der jeweils ein Ereignis aus jedem Jahrzehnt seit der ersten Ausgabe des ZT vertieft betrachtet wird.
Eine populäre Attraktion: das «Negerdorf»
Diesem eigenen Augenschein räumte der Redaktor in der Ausgabe vom 6. Juni 1896 ebenfalls auf der Front Platz ein. Was aus heutiger Sicht erstaunt, ist die fehlende Kritik gegenüber einer «Attraktion» wie dem «village noir» – oder «Negerdorf», wie es im damaligen Sprachgebrauch hiess. Doch es ist zu bedenken, dass diese sogenannten Völkerschauen mit «Exoten» in der damaligen Zeit nichts Anstössiges waren – vielmehr eine populäre Attraktion. In einer Meldung in der Ausgabe vom 6. Mai scheint es schon fast, als müsste das ZT seine Leserinnen und Leser, die sich um das Wohlergehen der ungefähr 200 Senegalesen sorgten, beruhigen: «Die Neger befinden sich trotz der rauhen Witterung wohl.»
Dass es den Afrikanern nicht immer so wohl war, zeigte sich zwei Wochen nach Ausstellungseröffnung (ZT vom 15. Mai). Unter dem Titel «Meuterei im Negerdorf» schrieb das ZT: «Neger und Negerinnen standen Montag Abend vor dem Hause des Häuptlings und diskutierten heftig. Man sah, es war etwas los. Plötzlich verliessen Männer, Weiber und Kinder ihre Wohnungen, ‹packten› und schickten sich an, zu verreisen; sie fanden aber die Zugänge verschlossen. In diesem Moment erschien ein Trupp Gendarmen; die bewaffnete Macht jagte den Schwarzen Schrecken ein; einige Negerinnen schrieen, sie wähnten ihr letztes Stündlein für gekommen. Man untersuchte den Fall und es stellte sich Folgendes heraus: Das Oberhaupt des Stammes, Byram-Sassum, war zwei Stunden zuvor mit seinen Weibern und Kindern, zusammen neun Personen, nach Marseille zurück instradiert worden und zwar auf Anordnung des Unternehmers, welcher mit Jenem unzufrieden war. Einige der Schwarzen fürchteten, ihr Häuptling sei hingerichtet worden, wollten nicht länger in dem barbarischen Lande bleiben und trafen deshalb ihre Vorkehrungen zur Abreise. Einzelne verstehen zum Glück etwas Französisch und es gelang, ihnen begreiflich zu machen, dass Byram nichts Schlimmes geschehen sei. Die Leute berieten, fanden, sie hätten wirklich ein ganz angenehmes Leben und die Bevölkerung sei ihnen gegenüber liebenswürdig. Der Beschluss lautete: Bleiben.»
Seine Eindrücke von der Landesausstellung beschrieb der ZT-Berichterstatter wie erwähnt in der Ausgabe vom 6. Juni: «Schon das herrlich schöne Genf macht auf den Besucher einen imposanten Eindruck. Man erhält schon etwas davon von der Seeseite her, voll und ganz aber erst, wenn man […] sich dem Fesselballon anvertraut, der uns rasch und sicher kerzengerade 400 Meter über die Erdoberfläche führt. […] Senkrecht unter uns, zu beiden Seiten der Arve, auf der Ebene Plainpalais breitet sich weit und umfangreich inmitten eines zum Paradiesesgarten umgewandelten Terrains die Ausstellung aus mit ihren buntglänzenden Hallen. […] Nicht weit davon dehnt sich das liebliche Schweizerdorf und der lebenslustige Vergnügungspark aus.»
Eine Dampfmaschine hält den Ballon am Boden
Bei dem erwähnten Fesselballon handle es sich um einen «Ballon captif, einen gefesselten Luftballon», schrieb das ZT am 4. Juni. Dieses «Luftungetüm» hätten die Brüder Band aus Lausanne neben dem Gebäude der Wissenschaft installiert, «durch die Kraft einer 25pferdigen Dampfmaschine an die Erde gefesselt». In 400 Metern Höhe konnten 15 bis 20 Personen den Rundblick auf das Ausstellungsgelände und die Stadt Genf geniessen: «Nach und nach wird das Aussichtsbild grossartiger und umfassender. […] Drunten im Ausstellungsrayon, von wo wir aufgestiegen, stehen wohl grosse Haufen von Menschen, die der Ballonfahrt mit den Augen folgen; uns kommen sie wie die Figürchen eines Kinderspielzeuges vor.»
«Das nationale Werk stehet und wirket zum Segen»
Als Fazit seiner Ausführungen schrieb der Berichterstatter im ZT vom 6. Juni: «In Summa: Die Landesausstellung in Genf ist sehr sehenswert und darf jedermann zu ernstem Studium, wie zu erheiternder Freude und edlem Naturgenuss bestens empfohlen werden. Niemand wird ohne neue Anregungen, ohne Dank und Erhebung von ihr sich verabschieden. Das nationale Werk stehet und wirket zum Segen!»
Ende Oktober schloss die Landesausstellung ihre Tore. Am letzten Sonntag sei der Andrang im Schweizerdorf so gross gewesen, «dass das Vieh eingetrieben werden musste, um den Leuten Raum auf den Alpweiden zu geben. An beiden Festtagen wurden die Dorfschenken vollständig ausgetrunken.» In den sechs Monaten, während denen die Landesausstellung geöffnet war, hätten gemäss ZT vom 31. Oktober 1,1 Millionen Menschen das Schweizerdorf besucht.