Schweizer Schriftstellerin Hanna Johansen mit 83 Jahren gestorben
«Werde ich noch schreiben können?» fragte sich Hanna Johansen im Gespräch mit dieser Zeitung kurz vor ihrem 80. Geburtstag. Das war vor drei Jahren – und 42 Jahre nach ihrem Debütroman. Wer ihr gegenübersass, konnte es sich nicht anders vorstellen, so voller physisch spürbarer Schaffenskraft war sie, trotz gesundheitlicher Probleme. Schreiben bis ans Lebensende: Was für viele Literaturschaffende gilt, war offenbar auch Hanna Johansen selbstverständlich. Im November des vergangenen Jahres kam ihr neuestes und letztes Buch «Bilder. Geschichten vom Sehen» heraus. In einem Gang vom 12. bis ins 19. Jahrhundert schrieb die Schriftstellerin über persönliche Begegnungen mit Meisterwerken vom mittelalterlichen Mosaik über Rembrandt bis zu Edward Hopper. Immer gut recherchiert, erzählerisch nachdenklich und sozialgeschichtlich eingeordnet. Ein Buch, das als Schule des Sehens beeindruckt hat.
Freiheitsliebende Hühner und Hausfrauen
Mit diesem letzten Buch vergrösserte sie nochmals den ohnehin weiten Fächer an literarischen Genres, den die 1939 in Bremen geborene Autorin in über vier Jahrzehnten aufgespannt hatte, vom existenzialistischen Roman bis zum Kinderbuch. Letztere waren besonders erfolgreich mit vergnüglichen, rührenden, utopisch-irrealen Geschichten: Da führten freiheitsliebende Hühner in ihrem Stall eine Oper auf, freundete sich eine Familie mit einem Haus-Dinosaurier an oder Johansen lehrte Kinder in «Sei doch mal still» aufmerksames Hören.
Mit Experimentierfreude und surrealer Wucht war sie 1978 mit ihrem Debüt «Die stehende Uhr» gleich beim renommierten Hanser Verlag erschienen. Der Roman erzählte von einer Zugreise ins Ungewisse, bilderreich und unentrinnbar. Albtraumhaft war auch ihr zweiter Roman «Trocadero»: Eine Hausfrau schildert darin, wie sie aus dürftigen Essensresten ein Festmahl für eine Männerrunde zaubern soll. Selbst Hausfrau und damalige Ehefrau des Schriftstellers Adolf Muschg, die zwei Söhne grosszog, sagte sie unserer Zeitung lächelnd: «Hätte ich einen anderen Beruf als Hausfrau ausgeübt, wäre das Schreiben vielleicht gar nicht möglich gewesen.»
Mit dem dritten Buch kam der Durchbruch
Mit der Erzählung «Die Analphabetin», in welchem sie aus der Perspektive eines fünfjährigen Mädchens von Bombennächten im Bunker berichtete, kam der Durchbruch und die einhellige öffentliche Anerkennung. Viele Preise folgten, unter anderem 2003 der Solothurner Literaturpreis und 2015 ein eidgenössischer Literaturpreis für ihr einziges autobiografisches Buch «Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte». Darin berichtete sie vom Vorhaben, mit über 70 noch etwas ganz Neues zu lernen – und davon, dass bei den pianistischen Etüden Erinnerung um Erinnerung anklingt. Bevor sie selbst zu schreiben begann, hat Johansen, die Germanistik und Pädagogik studiert hatte, amerikanische Avantgarde-Autoren ins Deutsche übertragen. Davon war wohl auch die radikal moderne Sprache ihrer ersten Bücher beeinflusst. Und bis heute faszinieren die Texte dieser Autorin mit der Verbindung von Genauigkeit und Gefühl, die gemeinhin als unvereinbar gelten.