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Das grösste Filmfestival der Welt ist auch das einzige bekannte Perpetuum mobile: Es lebt vom eigenen Buzz

Kaum ist die Pandemie vorbei, drängt es die Filmwelt zurück an die Croisette. Dort warten Altmeister des Autorenfilms und kleinere wie grössere Zumutungen. Bericht eines Debütanten.

Steht man zum allerersten Mal vor dem gigantischen Festivalpalais, dieser betonverglasten Mischung aus Tempellabyrinth und UFO, fühlt man sich rettungslos verloren. Unter dem wissenden Blick der 24-jährigen Catherine Deneuve, die sich auf dem diesjährigen Plakat charmant in die Haare greift, weiss man gar nicht, wo man zuerst hinsehen, hinlaufen, sich hinstellen soll.

Die Pandemie ist vorbei, der Ferienort wieder komplett überfüllt. An der Croisette herrscht mehr Gedränge als zur Krönung von König Charles vor zwei Wochen. Doch in Frankreich wurde die Kulturtechnik des gepflegten Anstellens noch nicht so perfektioniert wie auf der Insel.

Eine Frau schreit auf einen Mann ein, warum sie verdammt noch mal nicht zu der Afterparty heute Abend gehen könnten. Eine andere poliert mit einem Kleid im Umfang eines Kleinwagens den Asphalt, ein kniender Gentleman bindet ihr die Schuhe. Egal, wie edel der eigene ist, irgendjemand hat sich sicher einen teuereren, leicht schiefsitzenden Anzug geliehen. Und gäbe es die olympische Disziplin des Verächtliche-Blicke-Werfens, fände sich die Siegerin in Cannes. Überall Smartphones auf Augenhöhe, die Selfies, Live-Videos und Podcasts vom wichtigsten Filmevent in die Welt senden, diesem Bienenstock aus Seifenlauge.

Stargast oder Zaungast

Cannes ist Branchentreff, kein Publikumsevent. An den Absperrungen erbitten gut gekleidete Glückssucher Karten für die Galaabende, ein Pappschild fleht: «Suche Tickets für ‹Killers of the Flower Moon›, ich bin eigens dafür nach Cannes gekommen!» Wer hier nicht Star oder Stargast ist, bleibt Zaungast. Für Gemütlichkeit und Bodenständigkeit ist dies der falsche Ort. Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes präsentieren sich laut, wichtigtuerisch, wichtig. Sie sind das einzig bekannte Perpetuum mobile der Welt, angetrieben vom permanenten Medien-Buzz.

Schaulaufen der Stars: Auf dem roten Teppich posierten diese Woche Donata Wenders, Regisseur Wim Wenders, and Koji Yakush miteinander.
Keystone

Hier läuft das Kino vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein, wenn sich Menschentrauben um 2 Uhr nachts aus der Spätvorstellung schleppen oder Klassiker wie «Badlands» auf der Freilichtleinwand über den Sandstrand leuchten. Doch im grellsten Scheinwerferlicht steht nach wie vor das amerikanische Hollywood-Spektakel, das in Cannes seine Verbindung zum europäischen Arthouse-Adel sucht. «Indiana Jones and the Dial of Destiny» tritt das Erbe von «Top Gun: Maverick» an, der letztes Jahr an dieser Stätte als Retter des Kinos frenetisch empfangen wurde.

Die gleiche Wirkung hat der fünfte Teil des Archäologenabenteuers nicht mehr, kann sie nicht mehr haben, die Lage der Kinos ist eine andere. Womöglich war die Wahl dieser Premiere für keine Seite wirklich lohnend: Die ernüchternden internationalen Kritiken schleppt der Film schon vor dem offiziellen Start Ende Juni mit sich herum. Und das Festival unterstützt damit die von ihm wenig geliebten Streamingdienste durch die Hintertür, die längst weitere Serien und Ableger im Hinterkopf haben, auf dass die Nostalgiewelle niemals abebbt.

Die Lust am leichten Skandal

Im Wettbewerb laufen neben sechs Filmen von Regisseurinnen, auf die sich Cannes besonders stolz zeigt, viele Altmeister des Autorenfilms, die seit Jahren ihren Stammplatz haben: Hirokazu Koreeda, Ken Loach oder Nuri Bilge Ceylan. Als Jurypräsident amtet Ruben Östlund, der binnen fünf Jahre zweimal die Goldene Palme geholt hat, ein Selbstverwertungskreislauf. Ein möglicher Favorit für die diesjährige höchste Auszeichnung ist Jonathan Glazers vierter Spielfilm «The Zone of Interest». In seiner Grundkonstellation – das Alltagsleben der Lagerleitung von Auschwitz – orientiert sich das eiskalt-eindringliche Drama am gleichnamigen Roman von Martin Amis, der letzte Woche starb.

Frauen sind stark vertreten in «Four Daughters» von Kaouther Ben Hania, die mit dokumentarischen Mitteln weibliche Gewalterfahrungen offenlegt, die sich familiär weitertradieren. Oder in «May December», einer leicht überambitionierten Satire über Tabloid-Kultur mit Natalie Portman und Julianne Moore, an der sich inzwischen Netflix die Rechte gesichert hat. Da braucht es gar kein vermeintlich antifeministisches Skandalvehikel wie den Eröffnungsfilm «Jeanne du Barry», den man mit der leichten Lust an der Provokation eingeladen hat – die allerdings nicht so gross war, um die neuen Filme von Roman Polanski oder Woody Allen zu programmieren.

Neben «Jeanne du Barry»-Hauptdarsteller Johnny Depp und seinen zigarrengebräunten Zähnen muss es für den Klatsch also Regisseurin Maïwenn richten. Die Französin hatte gerade öffentlich damit geprahlt, einen Journalisten angegriffen und bespuckt zu haben, dessen Zeitung über MeToo-Fälle (darunter ihren eigenen) berichtete.

Cannes stört sich nicht weiter an solchen Stillosigkeiten, die für sich alleine nicht weiter erwähnenswert wären, aber in der Summe nahelegen, dass Anstand wirklich als uncool angesehen wird. So war Ehrengast Harrison Ford sichtlich irritiert, als er nicht informiert war, dass seine Frau Calista Flockhart an der «Indiana-Jones»-Premiere nicht neben ihm sitzen würde. Und einen Tag später war es der 80-jährige gleich noch mal, als er sich von einer Journalistin anhören musste, wie «hot» er doch noch sei.

Darunter nur die Kellerassel

Aber in Cannes lernt man, sämtliche kleine wie grössere Unverschämtheiten brav wegzulächeln, man will ja bei der nächsten Ausgabe wieder dabei sein. Dabei wird gerade Journalistinnen und Journalisten nicht der rote Teppich ausgerollt. Trotz des in der Pandemie etablierten neuen Ticketsystems läuft alles weiterhin streng hierarchisch über die Farbe des Zugangsbadges ab. Gelb ist die Farbe des niedrigsten, darunter kommt die Kellerassel.

Wenige Vorstellungen beginnen pünktlich, verursachen dadurch stundenlange Schlangen und organisatorisches Chaos beim Eingang, durch den man wie Vieh getrieben wird. Über das Drumherum, die üblichen Mondpreise bei den Wohnungsmieten und die gastronomischen Touristenfallen, die dem Ruf der französischen Küche spotten, sei geschwiegen. Man muss es selbst erlebt haben.

Oder man entzieht sich dem Trubel. So wie Pedro Pascal, aktuell einer der meistgefragtesten globalen Stars und einer der zwei Hauptdarsteller in Pedro Almodóvars Western-Kurzfilm «Strange Way of Life». Pascal blieb Cannes fern und feierte stattdessen mit seiner Schwester in New York ihren Abschluss an der Schauspielschule.