Sie verspeist jeden dritten Liebhaber: Der Gottesanbeterin ist es in der Schweiz wohler als je zuvor
Die Gottesanbeterin (Mantis religiosa), die charismatische, in der Schweiz geschützte Fangschrecke, ist auf dem Vormarsch. «Wir stellen eine starke Ausbreitung in der Region Basel, im Tessin, im Wallis, im Genferseegebiet und am Jurasüdfuss fest», sagt Matthias Borer, Kurator und Forscher des Naturhistorischen Museums Basel. «Der Klimawandel begünstigt die wärmeliebenden Insekten auf ihrem Weg nach Norden. Ursprünglich aus Afrika stammend, sind sie vor rund zweihundert Jahren über den Mittelmeerraum bis nach Berlin vorgestossen.
Nicht selten sind die Gelege von Gottesanbeterinnen entlang von Eisenbahnlinien zu finden, ausgestattet mit einer wassergeschützten Schlupfzone. Schotter- und Kiesflächen mit lockerer Vegetation und einer reichen Insektenwelt sind ideale Lebensräume. Transporte aus dem mediterranen Raum spielen bei der Verbreitung der Insekten immer noch eine Rolle. Borer sagt: «Auf Pflanzen, Blumentöpfen und Güterwaggons reisen angeklebte Gelege mit.»
Wie Chamäleons passen sie sich an die Umgebung an
Im Mai und Juni können über 200 Larven aus einer Oothek schlüpfen. Obwohl nur fünf Millimeter gross, gleichen sie den erwachsenen Tieren, nur die Flügel fehlen noch. Sofort setzt ihr Jagdtrieb ein. Gliederfüssler wie Milben, Ameisen und junge Wanzen werden mit den Fangbeinen gepackt und lebendig verzehrt. Alle zehn Tage häuten sich die Jungtiere. Darauf sind sie um ein Drittel grösser.
Ihre Farbpalette reicht von Dunkelbraun über Beige bis zu einem intensiven Grün. Ausschlaggebend ist dabei die Umgebungsfarbe. Einem Chamäleon ähnlich, aber bedeutend langsamer, erfolgt nach jeder Häutung eine bessere Farbanpassung an das Habitat. Nach der siebten Häutung ist eine weibliche Gottesanbeterin im Sommer mit 43–77 mm ausgewachsen. Mit ihrem frei beweglichen, dreieckigen Kopf mit zwei grossen Facettenaugen ist sie eine Lauerjägerin. Das vordere mit Dornen bewehrte Beinpaar ist zu Fangbeinen umgebildet. In der Ruhestellung werden sie vor dem Körper gehalten und erinnern so an zum Gebet erhobene Arme.
«Ihr Fangschlag ist sechs Mal schneller als der Lidschlag eines menschlichen Auges», sagt Borer. Sie erlegt sogar Beutetiere, die leicht grösser als sie sind. Stück für Stück werden zuerst die wehrhaftesten Körperteile von ihren scharfen Kiefern zerteilt und darauf verzehrt. Insekten und höchst selten auch kleine Mäuse und Jungfrösche gehören zur Beute. «Durch ihre räuberische Lebensweise hat die Gottesanbeterin im Ökosystem eine regulierende Aufgabe», erklärt Borer.
Das Männchen versucht sich beim Paaren zu verstecken
Auch jeder dritte Liebhaber geht bei einer Gottesanbeterin durch den Magen. Sprichwörtlich hat sie ihn zum Fressen gern, wenn er bei der Begattung die Vorsicht vergisst und sie hungrig ist. Immerhin kommt der tote Winkel dem filigranen Männchen zugute, wenn es sich während der Kopulation an den Schultern des Weibchens festklammert. Ansonsten wird es von der «femme fatale» Stück um Stück verzehrt.
Einen positiven Effekt hat aber dieser Kannibalismus: «Ein gut genährtes Weibchen kann wesentlich mehr Eier produzieren. Somit hat der aufgefressene Liebhaber bedeutend mehr Nachkommen», hält Borer fest. Vom August bis Oktober produziert das Weibchen mehrere Eigelege. Mit dem Hinterleibsende schlägt es das körpereigene Sekret zu Schaum. In der Folge härtet die ausgeklügelte Konstruktion als Eipaket, auch Oothek genannt, an der Luft aus. Die ausgewachsenen Tiere sterben beim ersten Frost. Nur ihre Eier überdauern den Winter im Schutz der Ootheken.
Doch eine parasitische Wespenart, «Podagrion pachymerum», hat sich auf diese Gelege spezialisiert. Der Eiparasit folgte den Gottesanbeterinnen auf ihrem Weg nach Norden. «Im Frühling und im Herbst gelingt es ihm, die äusserste Schicht der Eigelege mit seinem Legeborer zu durchstechen», sagt Hannes Baur, Kurator Entomologie des Naturhistorischen Museums Bern. Somit wird ein gewisser regulatorischer Effekt erreicht. Noch ist nicht klar, ob die Gottesanbeterin dem hiesigen Ökosystem schadet oder nicht.