Friedensforscher: Atomwaffenstaaten stärken ihre Arsenale
Die Atommächte der Erde investieren angesichts des Ukraine-Kriegs und der insgesamt verschlechterten Sicherheitslage auf der Welt in eine Modernisierung ihrer nuklearen Arsenale. Das geht aus dem am Montag veröffentlichten Jahresbericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri hervor. Zwar ging der Gesamtbestand der nuklearen Sprengköpfe demnach von Anfang 2022 bis Anfang 2023 um knapp 200 auf schätzungsweise 12’512 weiter zurück. Dafür habe die Zahl der einsatzfähigen Atomwaffen zu steigen begonnen.
Seit Jahrzehnten ist die weltweite Zahl der Kernwaffen kontinuierlich gesunken. Mittlerweile macht sie nur noch weniger als ein Fünftel von dem aus, was sich zu Spitzenzeiten des Kalten Krieges in den 1980er Jahren in den Atomarsenalen befunden hat. Der Rückgang liegt jedoch hauptsächlich daran, dass ausrangierte Sprengköpfe nach und nach von den führenden Atommächten Russland und den USA demontiert werden.
Das Problem sehen die Friedensforscher dagegen vor allem in den Sprengköpfen, die für den Einsatz bestimmt sind. Deren Zahl stieg im Jahresvergleich um 86 auf schätzungsweise 9576. Etwa 2000 davon wurden wie im Vorjahr in hoher Einsatzbereitschaft gehalten, also auf Raketen montiert oder auf Luftwaffenstützpunkten mit Atombombern stationiert. Fast alle davon gehören Russland oder den USA.
Verschärfte Atomrhetorik
«Die globalen Reduzierungen einsatzbereiter Sprengköpfe scheinen ins Stocken geraten zu sein, und ihre Zahlen steigen wieder», hiess es im Sipri-Bericht. Gleichzeitig hätten sowohl die USA als auch Russland umfangreiche und kostspielige Modernisierungsprogramme auf den Weg gebracht.
Angesichts der geopolitischen Spannungen und vor allem des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind die Friedensforscher alarmiert. «Die meisten atomar bewaffneten Staaten verhärten ihre Rhetorik über die Bedeutung von Atomwaffen, und einige äussern sogar explizite oder implizite Drohungen, sie möglicherweise zu nutzen», sagte der Sipri-Experte Matt Korda. «Dieser verschärfte nukleare Wettbewerb hat das Risiko dramatisch erhöht, dass Atomwaffen zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg im Zorn eingesetzt werden könnten.»
Neun Atomwaffenstaaten
Neun Länder verfügen Sipri zufolge über Atomwaffen. Russland und die USA bleiben dabei die Staaten mit den mit Abstand grössten Arsenalen: In ihren Beständen befinden sich fast 90 Prozent aller nuklearen Sprengköpfe. Dahinter hat sich China längst auf Rang drei geschoben. Sipri schätzt die Bestände der Volksrepublik nun auf 410 Sprengköpfe, 60 mehr als ein Jahr zuvor – Tendenz weiter steigend.
«China hat mit einer erheblichen Erweiterung seines Nukleararsenals begonnen», merkte Sipri-Experte Hans M. Kristensen an. Es werde immer schwieriger, diesen Trend mit Pekings erklärtem Ziel in Einklang zu bringen, lediglich über ein Minimum an Atommacht zu verfügen, um die nationale Sicherheit aufrechtzuerhalten.
Über Atomwaffen verfügen Sipri zufolge ausserdem noch Frankreich, Grossbritannien, Pakistan und Indien sowie Israel und Nordkorea, Deutschland besitzt solche Waffen nicht.
Rückschlage für Atomdiplomatie durch Ukraine-Krieg
Die Atomdiplomatie hat seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 starke Rückschläge erlitten. Kremlchef Wladimir Putin hatte im Februar 2023 den Abrüstungsvertrag «New Start» – den letzten grossen atomaren Abrüstungsvertrag mit den USA – ausser Kraft gesetzt. Auch Gespräche über ein Nachfolgeabkommen für den 2026 auslaufenden Vertrag wurden auf Eis gelegt.
Hinzu kommt, dass die Verhandlungen über eine Wiederbelebung des Atomabkommens mit dem Iran von dessen militärischer Unterstützung für die russischen Streitkräfte in der Ukraine und der politischen Lage im Land überschattet werden. Eine Wiederbelebung des Abkommens scheine derzeit zunehmend unwahrscheinlich, schätzte Sipri ein.
«Es besteht dringender Bedarf, die Atomdiplomatie wiederherzustellen und die internationalen Atomwaffenkontrollen zu stärken», forderte Sipri-Direktor Dan Smith. In Zeiten geopolitischer Spannungen, des Misstrauens und der abgeschalteten Kommunikationskanäle zwischen atombewaffneten Rivalen sei die Gefahr von Fehleinschätzungen, Missverständnissen oder Unfällen inakzeptabel hoch.
Die Regierungen müssten Wege zur Zusammenarbeit finden, um die Spannungen zu beruhigen, das Wettrüsten abzubremsen sowie die sich verschlimmernden Folgen von Klimakrise und wachsendem Hunger in der Welt zu bewältigen. Smith machte klar: «Wir driften in einen der gefährlichsten Zeiträume der Menschheitsgeschichte ab.» (dpa)