Chef des Schweizer Nachrichtendienstes: «Ein substanzieller Schock für das System Putin»
Angekündigt war ein trockenes Thema: Die Präsentation des Jahresberichts des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB). Aufgrund des Aufstands der Gruppe Wagner in Russland vom vergangenen Wochenende erhielt der Auftritt des NDB-Chefs am Montag vor den Medien in Bern jedoch eine unerwartete Bedeutung. Und Christian Dussey nahm denn zuerst auch ausführlich Stellung zu den jüngsten Entwicklungen im grössten Land der Welt.
«Nach meinem ersten Jahr im Amt würde ich gerne einen optimistischeren Jahresbericht vorlegen», sagte der Chef des Schweizer Nachrichtendiensts. «Doch das kann ich leider nicht.» Einerseits habe sich die weltpolitische Situation im vergangenen Jahr weiter zugespitzt. Andererseits habe der Wagner-Aufstand vom Wochenende der ganzen Welt vor Augen geführt, wie fragil die Lage in Russland sei.
Besonderes Augenmerk auf instabile Atommacht
«Das ist ein substanzieller Schock für das System Putin», fasste Christian Dussey die aktuelle Lage zusammen. Auch wenn der Marsch der Privatarmee auf Moskau am Samstagabend schliesslich abgeblasen wurde, sei es «zu früh, um jetzt bereits sagen zu können, wie sich das Vorgefallene auswirken wird», so der NDB-Chef. «Noch ist die Situation in Russland zu nebulös und zu fluid.» Derzeit warteten viele Akteure im Staatsapparat darauf, wohin «wohin der Wind dreht».
Nach dem Angriff Russlands auf das Nachbarland vor bald eineinhalb Jahren sei es insgesamt erfreulich zu sehen, wie sich die Zusammenarbeit innerhalb Europas und über den Atlantik verstärkt habe. Laut Dussey hat sich dies auch am vergangenen Wochenende gezeigt:
«Der Westen hat nicht überhastet eingegriffen und die Situation auch nicht ausgenutzt.»
Und an diese besonnene Vorgehensweise habe sich in den vergangenen Tagen auch der NDB gehalten:
«Wir haben die Vorgänge in Russland eng beobachtet und den Bundesrat laufend über die grösste innenpolitische Herausforderung Putins in zweieinhalb Jahrzehnten informiert.»
Denn klar sei, dass eine solche Instabilität einer Atommacht «eine sehr gravierende Situation» sei, so der Chef des Schweizer Nachrichtendienstes.
Dass der Bundesrat die Situation in Russland eng beobachte, hatte auch Dusseys Chefin Viola Amherd bereits am Samstag erklärt. Als VBS-Vorsteherin werde sie regelmässig über die Entwicklung informiert, sagte sie am Mitte-Parteitag in Sursee gegenüber verschiedenen Medien.
Zwar warnte der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) bereits vor Jahresfrist vor vermehrter Spionage hierzulande, sah aber noch keine Verschlechterung der Sicherheitslage. Und das trotz dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs.
Inzwischen sieht der NDB die Lage jedoch weniger rosig: Nebst dem anhaltenden Angriff Russlands auf das Nachbarland sei das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz «wesentlich durch die wachsende Konkurrenz der Grossmächte geprägt». Der Schweizer Nachrichtendienst meint damit die sich im vergangenen Jahr weiter verhärtenden Fronten zwischen den USA und den westlichen Staaten auf der einen Seite sowie andererseits den aufstrebenden und sich immer aggressiver gebärdenden Staaten China und Russland.
«Die Bedrohung der Schweiz durch ausländische, hauptsächlich russische und chinesische Spionage bleibt hoch», schreibt der NDB denn auch in einer Mitteilung zum Jahresbericht 2022. Das habe einerseits mit der Schweiz als Standort grosser internationaler Organisationen zu tun. Andererseits liegt die Vermutung nahe, dass aufgrund zahlreicher Ausweisungen in anderen europäischen Ländern russische Spione nun vermehrt hierzulande aktiv sind.
Doch Christian Dussey winkte ab: «Wir haben bereits zahlreiche Massnahmen dagegen getroffen», sagte der NDB-Chef am Montag vor den Medien in Bern. Er geht allerdings davon aus, dass hierzulande derzeit 70 bis 80 Mitarbeitende russischer Geheimdienste aktiv sind, beispielsweise getarnt als Mitarbeitende der Botschaft. Nach deren allfälliger Ausweisung gefragt, verwies Dussey lediglich darauf, dafür sei der Bundesrat zuständig.
Wie zahlreiche westliche Länder treffe die hybride Kriegsführung Russlands auch die Schweiz, konstatierte Christian Dussey weiter. Das zeige sich beispielsweise in gehäuften Wellen von Cyberangriffen, wenn auch diese bisweilen einfach nur kriminell seien. «Wir alle müssen wachsam sein, wenn wir zum Beispiel E-Mails mit Anhängen von unbekannten Absendern erhalten», sagte der Geheimdienstchef. Denn auch bei einem Ende des Ukraine-Kriegs sei nicht mit einem Abebben der Cyberangriffe zu rechnen. Dazu seien die Möglichkeiten im Netz inzwischen einfach viel grösser als noch vor wenigen Jahren.
Weitere Herausforderungen, die sich im vergangenen Jahr akzentuiert haben, bleiben laut Dussey die gesellschaftliche Polarisierung und Fragmentierung. Damit verbunden bleibe das Risiko von gewalttätigem Extremismus – und das von links wie rechts. Und auch die Terrorbedrohung hierzulande bleibe «erhöht». Diese sieht der NDB zwar weiterhin primär geprägt durch die dschihadistische Bewegung. Zunehmend spielten aber auch psychische Probleme oder persönliche Krisen beim Schritt zur Gewaltanwendung eine erhebliche Rolle. (sat)
Jahresbericht über erste zwölf Monate im Amt
Seit gut einem Jahr steht Christian Dussey an der Spitze des Schweizer Nachrichtendienstes. Der vormalige Botschafter im Iran folgte in dieser Position auf Jean-Philippe Gaudin. Dieser war vor zwei Jahren über die sogenannte Crypto-Affäre gestolpert und musste auf Geheiss von Verteidigungsministerin Viola Amherd gehen.
In Bundesbern ist Dussey dabei kein Unbekannter: Der 58-Jährige war früher unter anderem bereits fünf Jahre beim damaligen strategischen Nachrichtendienst des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerung und Sport (VBS) tätig und leitete das Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik.