Pilze: eine geheimnisvolle Welt der unendlichen kulinarischen Vielfalt
Wer vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, ist alles andere als ein Glückspilz. Nicht nur, weil ihr oder ihm die faszinierende Pflanzen- und Tiervielfalt entgeht, nein, weil da jetzt noch was anderes, etwas ganz und gar Wundersames, auf der herbstlich feuchten Erde wächst, geräuschlose Organismen, die weder Pflanze noch Tier sind: Pilze. Leben sie meist im Verborgenen unter der Erde, kommen im Herbst die Fruchtkörper der Geflechte zum Vorschein; auf dem Boden, auf Holz oder einem anderen Substrat.
Das Pilzreich ist ein sehr altes. Seit 800 Millionen Jahren existieren Pilze auf der Erde, deutlich länger als Pflanzen, und es gibt sie überall. So klein die Fruchtkörper auch sein mögen, unter der Erde nehmen Pilzfäden zum Teil gigantische Ausmasse an. So ist das grösste Lebewesen der Welt denn auch nicht der Blauwal, sondern ein Hallimasch, der unterirdisch im US-Bundesstaat Oregon lebt und dessen Pilzfäden eine Fläche von 900 Hektar umfassen – mehr als 1200 Fussballfelder.
So gesehen ist es nicht ganz korrekt, wenn Raphael Lüthy Pilze als «kleine Wunder der Natur» anpreist. Der Kreativchef der vegetarisch-veganen Restaurantkette Tibits lud diese Woche im Rahmen der Food Zürich und anlässlich des europäischen Pilztags am 23. September zur «Fungi Experience». Einem Gourmet-Abend, der dazu einlud, die kulinarische Vielseitigkeit der Pilze zu entdecken. Was Lüthy und sein Team auf jeweils wenige Zentimeter Teller zauberten, waren dann tatsächlich kleine Wunder. Jakobsmuscheln aus Kräuterseitlingen, Terrinen, ein Waldpilzbraten an einer kräftigen Rotweinsauce. Und frische Burgundertrüffel des jungen Unternehmens Swiss Truffle aus dem Aargau mit dezent-delikatem Goût.
Bei diesem Gaumenschmaus fehlte es an nichts. Trotz oder gerade weil Fleisch auf dem Menüplan nicht vorkam. So sagte denn auch Daniel Frei, Mitbegründer des «Tibits», der an diesem Abend auch munter mitdegustierte: «Pilze lassen sich mit etwas Kreativität geschmacklich sehr gut kombinieren, zu fast allen Zutaten.» Aus seiner Sicht sei es höchste Zeit gewesen, Pilze ins Rampenlicht zu stellen, so Frei: «Wir finden es faszinierend, wie sie sich sehr gut als natürliche Fleisch- und Fischalternativen verarbeiten lassen. Sie sind der alten neue Superfood, reich an Nährstoffen und Antioxidantien, und haben mehr Beachtung verdient.»
Tatsächlich werden Pilzgerichte als Fleischersatz immer populärer. Entsprechend möchte das «Tibits» den Fokus noch mehr auf sie legen. In diesem Herbst werden neue Gerichte am Vegi-Buffet aufgetischt, unter anderem eine Eierschwämmli-Tarte, eine Polenta mit Kräuterseitlingen und ein Gemüsecurry mit Shitake. Auswahl für Raphael Lüthy, um neue Pilzgerichte fürs «Tibits» zu kreieren, gibt es beileibe genug. Abgesehen von all den Zuchtpilzen seien in der Schweiz 10000 wilde Pilzarten bis dato bekannt, hielt er an der Food Zürich zwischen Herd und Tisch fest. Und 200 davon seien essbar.
Was nach viel anmutet, ist noch längst nicht alles: Laut Schätzungen existieren bis zu 20000 Arten in der Schweiz; jedes Jahr kommenden Dutzende bisher unentdeckte dazu. Gute Aussichten also für Pilz-Gourmets oder solche, die es werden wollen. Allerdings kann diese Vielfalt, die weit über die bekannten Champignons, Steinpilze und Co. hinaus geht, auch überfordern.
Das Ausloten der geschmacklichen Möglichkeiten
Das neue Buch «Pilze aus Wald & Stadt» (AT Verlag) bringt Ordnung in das Pilz-Wirrwarr. Es ist nicht einfach ein Kochbuch, vielmehr eine bildgewaltige Assemblage an Porträts zu verschiedensten Pilzen, mit einem spannenden Wissensteil, garniert mit fantasievollen Rezepten von Maurice Maggi («Essbare Stadt»), die mit wilden oder kultivierten Pilzen zubereitet werden.
Initiiert haben das Projekt die Fotografin Martina Meier und ihr Kollege Gerry Amstutz. So wird die Schönheit dieser wundersamen Gewächse präsentiert und gleichzeitig ihre geschmacklichen Möglichkeiten ausgelotet. Der Laie erfährt im Porträtteil etwa, dass der Samtfussrübling leicht süsslich schmeckt und gegen Erkältungen wirkt. Staunt über den Igelstachelbart, der aussieht wie eine Seeanemone und geschmacklich an Kalbfleisch erinnert. Das macht gwundrig. Entsprechend schliesst Biologin Franziska Witschi im Wissensteil mit der Festellung: «Das geheimnisvolle und doch überall präsente Reich der Pilze hält wohl noch viele Überraschungen bereit. Der moderne Mensch steht erst am Anfang, sie zu entdecken.»
Ein Glückspilz also, wer sich kulinarisch durch diese wundersame Welt probiert.
Rezept: panierter Igelstachelbart
Dieser Wildpilz ist in Europa und auch in der Schweiz anzutreffen, kommt aber selten vor. Wenn, dann findet man ihn in Wäldern mit hoher Luftfeuchtigkeit an älteren Laubbäumen. Er fungiert dort als Wundparasit. Der Pilz lässt sich gut in handgrosse Scheiben schneiden; die Konsistenz erinnert an Meeresfrüchte, vom Geschmack her ähnelt er Kalbfleisch, weshalb er ein prima Fleischersatz für Vegetarier darstellt. Dieses Rezept werden aber bestimmt auch Fleischliebhaber sehr mögen. Die Pilzschnitzel passen klassisch zu Spaghetti mit Tomatensauce. Oder man serviert sie so, wie man Schnitzel auch sonst servieren würde.
400–500 g Igelstachelbart
Salz
2–3 EL Mehl oder Reismehl
2 Eier
Paprikapulver
Pfeffer aus der Mühle
40 g gemahlene Haselnüsse
2 EL ungesüsste Cornflakes, zerstossen
Öl und Bratbutter zum Ausbraten
Die Pilze in etwa 1 cm dicke, etwa handgrosse Scheiben schneiden und in kochendem Salzwasser 6 Minuten blanchieren. Herausnehmen, abtropfen lassen und sehr gut mit Küchenpapier abtupfen.
Das Reismehl oder Mehl auf einen Teller geben, die Eier in einen tiefen Teller aufschlagen und mit Paprika, Pfeffer und Salz verrühren.
Die Haselnüsse und die zerstossenen Cornflakes auf einem dritten Teller vermischen.
Die Pilzscheiben erst im Reismehl oder Mehl wenden, dann durch die aufgeschlagenen Eier ziehen und zum Schluss in der Haselnuss-Cornflakes-Mischung wenden.
Die Pilze in reichlich Öl oder Bratbutter beidseitig goldbraun ausbraten.
Rezept aus dem Buch Pilze aus Wald & Stadt (siehe oben)