Droht dem Schweizer Stahl nach 200 Jahren das Ende? Am Donnerstag kommt es im Bundeshaus zum Showdown
Am 14. Juni hat das Stahlwerk im solothurnischen Gerlafingen sein 200-jähriges Bestehen gefeiert. Aus Bern reiste mit Albert Rösti sogar ein Bundesrat an: «Nicht nur Gerlafingen, die ganze Schweiz hat sich dank Produkten von Stahl Gerlafingen entwickelt», sagte der SVP-Magistrat. «Ich kann Ihnen versichern, dass die Politik aktiv ist. Wir werden die nächsten Jahre in dieser schwierigen Zeit der Energiekrise meistern.» So berichtete noch am gleichen Abend die «Solothurner Zeitung».
Wenn es nun, drei Monate später, am Donnerstag im Nationalrat um die Zukunft der schweizerischen Stahl- und Aluindustrie geht, wird Röstis Partei- und Bundesratskollege Guy Parmelin allerdings nicht auf der Seite des Stahlwerks Gerlafingen und dessen Branche stehen. Denn der Bundesrat will nichts wissen von einem Massnahmenpaket, das die Nachteile der Schweizer Unternehmen gegenüber der europäischen Konkurrenz abfedert, die durch die massive Energie- und Industriepolitik Brüssels entstanden sind.
So fordert es der Solothurner SP-Ständerat Roberto Zanetti in einer Motion. Und SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr aus dem Thurgau fordert es in einer gleichlautenden Motion ebenfalls. Es geht um Werke mit bekannten Namen der Schweizer Industriegeschichte: Neben Gerlafingen sind das unter anderen Swiss Steel in Emmenbrücke, mehrere Von-Roll-Giessereien und Aluwerke im Wallis sowie im Laufental.
Zanetti hat in den 90er Jahren schon einmal geholfen, das Stahlwerk Gerlafingen zu retten. Jetzt, fast 30 Jahre später, stellen die Strompreise und vor allem die Subventionspolitik der EU nicht nur Gerlafingen, sondern die Stahl- und Aluminiumindustrie in der Schweiz insgesamt infrage. So sehen es jedenfalls Branchenvertreter.
«Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben einen strategischen Wettbewerb um die Produktionsstandorte der Metallindustrie lanciert», sagt Andreas Steffes, Geschäftsführer des Dachverbands metal.suisse. Er listet auf, von wie vielen Millionen, ja sogar Milliarden Euro europäische Konzerne nur schon für den Umbau hin zur Klimaneutralität profitieren: Bei Thyssen in Deutschland sind es 2 Milliarden, British Steel erhält 380 Millionen, im französischen Dunkerque darf Arcelor Mittal mit 850 Millionen rechnen.
Die Zahlen sagen längst nicht alles. Denn vielerorts ist der Energiepreis staatlich gedeckelt und bald treten neue, finanzielle Schutzmassnahmen gegen den Import von Stahl aus Ländern ohne Klimaauflagen in Kraft.
Nationalrätin Gutjahr, die einen Stahl- und Metallbaubetrieb in Romanshorn, führt, sagt: «Solange die Konkurrenzunternehmen in der EU so stark subventioniert sind, können wir in der Schweiz nicht auf Augenhöhe produzieren und verarbeiten.» Sie wolle aber, dass der Standort Schweiz erhalten bleibt: «Sind die Firmen einmal weg, kommen sie nicht mehr zurück.» Insgesamt gehe es um bis zu 20’000 direkt betroffene Arbeitsplätze. Entlang der Wertschöpfungskette sogar um rund 100’000 betroffene Arbeitsplätze.
Die Schweizer Stahlwerke sind Vorzeigebetriebe der Kreislaufwirtschaft. Sie nutzen als Ausgangsmaterial ausschliesslich Schrott, der etwa beim Abriss von Gebäuden oder als Abfall bei der Metallverarbeitung anfällt. Ohne eigene Stahlwerke müsste die Schweiz jedes Jahr rund 1,5 Millionen Tonnen Schrott ins Ausland transportieren und die entsprechende Menge Stahl zusätzlich importieren. Das hätte gemäss Schätzungen 250’000 zusätzliche Strassentransporte zur Folge. «Dafür fehlt die Transportkapazität auf der Schiene», sagt Gutjahr.
Andreas Steffes von metal.suisse weist darauf hin, dass die Schweizer Stahl- und Aluwerke bereits viel in energieeffizientere Anlage investiert hätten: «Heute sind unsere Produzenten zwar teuer, aber auch die Besten im internationalen Vergleich, vor allem was den CO2 Fussabdruck anbelangt.» Damit das so bleibe, brauche es schnell weitere Investitionen in die Dekarbonisierung – doch dafür müssten die Rahmenbedingungen jener der europäischen Konkurrenz entsprechen.
Doch was fordern Zanetti, Gutjahr und ihre Mitstreiter konkret? «Mit ihren Unternehmen, die sehr viel Energie verbrauchen, wäre der Branche schon geholfen, wenn zusätzliche Abgaben auf dem Strom, etwa der Netzzuschlag, oder Abgaben für die Winterstromreserven zumindest temporär erlassen würden», sagt Gutjahr. Dies aber lediglich so lange, wie es die Situation in der EU erfordere: «Ich will keine Industriepolitik wie in der EU, wo sich der Staat in alles einmischt.»
Geschäftsführer Steffes von metal.suisse schlägt weiter vor, dass vorhandene Instrumente gezielt für den Umbau zur Klimaneutralität der energieintensiven Stahl- und Alubranche eingesetzt werden könnten: Etwa die Teilnahme an Programmen des Bundes zur Technologieförderung oder «die Verwendung von Geldern aus dem Emissionshandel für die grüne Transformation», wie er sagt – das sind nur zwei Beispiele.
Schlappe für Parmelin im Ständerat
Am Donnerstag wird Wirtschaftsminister Guy Parmelin im Nationalrat die Position des Bundesrats verteidigen: Er lehnt die Motionen ab. Es sei zwar «störend, wenn Nachbarländer ihre Unternehmen subventionieren», sagte Parmelin im März, als der Ständerat Zanettis Vorstoss diskutierte: «Aber es ist eine Illusion, dass wir immer Chancengleichheit in allen Bereichen garantieren können.» Parmelin wies darauf hin, dass sich die Strompreise bereits wieder in Bereichen wir vor Ausbruch des Ukrainekriegs bewegten, zudem seien einige Massnahmen in der EU zeitlich begrenzt. Und: «Auch andere Branchen sind von den steigenden Energiepreisen betroffen.»
Im Ständerat drang er damit nicht durch. Mehrere bürgerliche Schwergewichte wie der freisinnige Ruedi Noser aus Zürich, der Solothurner Mitte-Ständerat Pirmin Bischof oder der Thurgauer SVP-Vertreter Jakob Stark sprachen sich ausdrücklich für den Erhalt der Stahl- und Aluindustrie in der Schweiz aus. Mit 35 zu 5 Stimmen sagte die kleine Kammer deutlich Ja zum Vorstoss Zanettis.
Im Nationalrat verspricht die Ausgangslage nun aber grössere Spannung: Die bürgerliche Mehrheit der Wirtschaftskommission folgt dem Bundesrat und empfiehlt, den Vorstoss abzulehnen. Das ist auch die Position der bürgerlichen Fraktionen – freilich mit Abweichlerinnen und Abweichlern.
Als Sprecher der Minderheit wird sich SP-Co-Präsident Cédric Wermuth für die Stahlindustrie einsetzen: «Wir werden in der Schweiz immer auf Stahl und Metall angewiesen sein. Es wäre deshalb falsch, unsere Produktionsstätten aufzugeben und uns vom Ausland abhängig zu machen», sagt er – fast wortgleich wie Diana Gutjahr, die SVP-Unternehmerin.