Zugvögel am Himmel beobachten: Die grosse Reise der kleinen Flieger
Holziken, etwas südlich von Aarau. Es ist das erste Oktoberwochenende im vergangenen Jahr, und fast 50 Leute, alte Hasen und junge Begeisterte, haben sich versammelt, um die Zugvögel zu beobachten und zu zählen. Und wie sie Glück hatten, die Angereisten und Hergewanderten: Mehr als 5000 Vögel wurden gezählt! Darunter befanden sich riesige Buchfinken-Schwärme, 130 Rauchschwalben, aber auch Seltenheiten wie ein Fischadler, zwei Baumfalken und eine Rohrweihe.
Auch in Ettingen im Kanton Baselland kamen die Besucherinnen auf ihre Rechnung; sie hatten einen Habicht, zwei Schwarzstörche und 66 Rotmilane im Fernglas. Oder in Entlebuch: Hier freute man sich über einen Merlin, zwei Steinadler und mehr als 200 Sommergoldhähnchen. Richtig dramatisch ging es schliesslich in Neuhausen am Rheinfall zu und her: Hier wurden vier Kampfläufer gesichtet, und man war live dabei, als ein Wanderfalke – das schnellste Tier der Welt – einen Alpensegler im Flug erbeutete und dieses Fressen einem Jungvogel übergab.
Das Phänomen um den Marathonflug
Am sogenannten «EuroBirdwatch»-Tag, traditionellerweise am ersten Wochenende im Oktober, laden zahlreiche Sektionen des Schweizer Vogelschutzes Birdlife Schweiz zu ihren Ständen an guten Beobachtungspunkten ein. Jeder und jede, ob Anfänger, Hobby-Birderin oder einfach Interessierter, ist am 7. und 8. Oktober eingeladen, an nicht weniger als 50 Orten dabei zu sein, vom Genfer- bis zum Bodensee und von Basel bis ins Engadin. Zum ersten Mal durchgeführt wurde der Anlass 1993, und es war schon damals ein voller Erfolg – europaweit zählten 17’000 Menschen an 1800 Events in 17 Ländern nicht weniger als fünf Millionen Vögel.
Der Vogelzug ist ein packendes und geheimnisvolles Phänomen. Wie schaffen es so grosse und schwere Vögel wie Störche oder Gänse, Tausende Kilometer in den Süden zu fliegen? Und wie schaffen es federleichte Vögel wie Fitis und Nachtigall, genug Reserven für einen solchen Marathonflug mittragen zu können? Mit Gewitter und Stürmen fertig zu werden? Und dann sind da auch immer mehr Gefahren und Herausforderungen durch uns Menschen: Rastplätze und Überwinterungsgebiete verschwinden wegen intensiver Landnutzung und des Klimawandels, Jäger warten, um eine Delikatesse vom Himmel zu schiessen. In Ägypten verenden jedes Jahr Millionen von Vögeln in Hunderte Kilometer langen Netzen.
Das «EuroBirdwatch»-Event findet heute in über 40 Ländern bis nach Zentralasien statt. «Mit dem Event wollen wir den Menschen die Faszination des Vogelzuges näherbringen», sagt Stefan Bachmann von Birdlife Schweiz. «Wir wollen aber auch vermitteln, wie schlecht es der Vogelwelt in der Schweiz geht.» Tatsächlich sieht es nicht gut aus. 40 Prozent alles Schweizer Brutvögel sind auf der Roten Liste, sind also «angezählt», und es braucht griffige und im ganzen Land verteilte Massnahmen, damit sie nicht aussterben. «Mit dieser Zahl befindet sich die Schweiz auf einem der letzten Plätze in ganz Europa», sagt Livio Rey von der Vogelwarte Sempach.
Lange Zeit war es ein Rätsel, wie die Vögel ihr Ziel finden. Sie nutzen dazu verschiedene Tools – Sterne, die Sonne, das Erdmagnetfeld, aber auch topografische Merkmale wie Flüsse. Die meisten Zugvögel fliegen auf einer Höhe von unter 1000 Metern, es wurden aber schon Schwäne beobachtet, die in Höhen von 8000 bis 8500 Metern flogen. Besonders mutig sind die Jungvögel mancher Arten, etwa Rauch-, Mehl- und Uferschwalben. Sie fliegen nämlich einige Zeit vor ihren Eltern ab – ohne die Reise je gemacht zu haben. Bei vielen Arten ist es umgekehrt: Wenn die Eltern abfliegen, fressen sich die Jungen noch etwas Speck an, trainieren ihre Flugmuskeln – und heben dann auch zum langen Flug ab. Bei allen Strapazen und Gefahren wünscht man den Vögeln natürlich im besten Sinne: «Gute Reise – und kommt bald wieder!»