Reider Verein erlebt Glücksmomente trotz Krieg in der Ukraine
In Uschhorod ist es friedlich. 800 Kilometer liegen zwischen der Stadt ganz im Westen der Ukraine und der Frontlinie im Osten. Dank der geografischen Lage direkt an der slowakischen Grenze blieb die Hauptstadt des Oblasts Transkarpatien mit ihren 120‘000 Einwohnerinnen und Einwohnern bisher von russischen Angriffen verschont.
In der historischen Innenstadt scheint der Krieg fast surreal. Läden und Cafés sind geöffnet, zahlreiche Menschen schlendern bei sonnigem Herbstwetter in der längsten Lindenallee Europas dem Fluss Usch entlang, welcher der Stadt den Namen gibt. Die friedvolle Stimmung lässt beinahe vergessen, dass ein Teil dieser Menschen nicht freiwillig hier ist. Uschhorod beherbergt noch immer zig Tausende Inland-Flüchtlinge aus dem Osten, die Schutz vor Bomben und Zerstörung suchten.
Eine Kerze erinnert an einen gefallenen Soldaten
Zwiespältig sind die Gefühle auch beim Restaurant-Besuch. Im traditionellen Gasthaus in der Nähe der griechisch-katholischen Kathedrale fehlt es an nichts. Die Speisekarte reicht von Holubzi (Krautwickel) bis zu Vareniki (Teigtaschen). Die Gäste sitzen draussen beim Bier und lachen. Doch auf einer Kommode beim Eingang steht das Porträt eines Soldaten neben einer brennenden Kerze und erinnert daran, dass ein junger Mann aus ihrer Mitte im Krieg gefallen ist.
Situationen wie diese erleben die Vorstandsmitglieder des Schweizer Vereins «Parasolka» mit Sitz in Reiden während ihres einwöchigen Aufenthalts in Transkarpatien immer wieder. «Sie erschüttern. Die Reise in die kriegsversehrte Ukraine ist aber auch ermutigend», heisst es im Reisebericht. So zeige der Besuch des von «Parasolka» mitunterstützten Nothilfelagers der Partnerorganisation CAMZ (Committee Aide Medical Zakarpattya), dass die Gelder in den richtigen Händen sind. Allein von diesem Lager aus wird fast täglich ein Lastwagen mit Hilfsgütern in den Osten geschickt.
Ein Wohnheim für geistig Beeinträchtigte
Emotional sei der Besuch in den beiden vom Verein unterstützten Institutionen für Menschen mit Behinderung gewesen. Dank privaten Spenderinnen und Spendern, grosszügigen Stiftungsgeldern und einem enormen Einsatz des ehrenamtlichen Vorstands hat der Verein in Tjachiv (ebenfalls Transkarpatien) ein Wohnheim für 25 junge Erwachsene mit einer geistigen Behinderung aufgebaut. Dieses gilt in der Ukraine als Vorzeigeprojekt und feiert nächstes Jahr sein 15-Jahr-Jubiläum. Das Angebot wurde in den letzten Jahren mit einer Frühförderstelle und neu mit einer Tagesstätte für Kinder mit einer Behinderung ergänzt.
Weitere Ideen sind in der Projektphase, beispielsweise der Aufbau einer begleiteten Wohngruppe ausserhalb des Wohnheims. Trotz positiver Entwicklung gibt es im Behindertenwesen der Ukraine grosse Herausforderungen. Die Institutionen müssen mit noch knapperen Budgets haushalten und die Löhne der Bertreuerinnen – fast ausschliesslich Frauen – sind so tief, dass manche 150 Prozent arbeiten, um über die Runden zu kommen. Zudem gibt es in der Ukraine keine Ausbildung für die Arbeit mit Menschen mit einer Beeinträchtigung.
Verein will die Uni Uschhorod unterstützen
Und nun nimmt ein Projekt trotz Krieg wieder Fahrt auf, das der Verein «Parasolka» gemeinsam mit der Universität Uschhorod vor Corona lanciert hatte: Der Aufbau einer neuen Fakultät für Sozial- und Heilpädagogik mit einem dualen Ausbildungsgang für Betreuungspersonen im Bereich Beeinträchtigung. Vor kurzem haben die Uni-Verantwortlichen sogar Gebäude bezeichnet, in welchen die neue Fakultät einziehen könnte. Bei der Besichtigung der stark renovationsbedürftigen Bauten mussten die «Parasolka»-Vorstandsmitglieder jedoch leer schlucken. Ein solch grosses Projekt übersteigt die Möglichkeiten des kleinen Schweizer Vereins bei weitem. Und der Staat kann in Kriegszeiten keine finanziellen Mittel dafür sprechen. «Dennoch will ‹Parasolka› an der Vision festhalten und unterstützt die Uni Uschhorod bei der Suche nach weiteren und grösseren Unterstützenden – damit die Lebensqualität von Menschen mit einer Behinderung nachhaltig verbessert wird», heisst es im Bericht des Vereins.
Nach einer intensiven und emotionalen Woche in der Ukraine überwiegt am Schluss die Zuversicht. «Wir erlebten ein Land, das sich trotz der riesigen und ungerechtfertigten Herausforderungen intensiv in die Zukunft bewegt», so das Fazit von «Parasolka»-Präsident Andreas Schmid aus Lostorf. Vorstandsmitglied und Heilpädagogin Silvia Zimmermann aus dem luzernischen Herlisberg befürchtet zwar, dass sich die aktuelle Situation entwicklungshemmend oder gar traumatisch auf viele Kinder auswirken wird. Sie sei aber auch tief beeindruckt, wie sich die Fachpersonen «trotz widriger Umstände mit ihrer ganzen Kraft für bessere Bedingungen einsetzten».