Einmal schnell gutes Gewissen tanken: Jetzt gaukeln sogar Tankstellen vor, sie seien klimaneutral
Mit Wertschriften zu handeln, gilt nicht gerade als die feinste Art, um sein täglich Brot zu verdienen. Ausser natürlich, es dient dem Klima. Doch spätestens dieses Jahr wurde klar: Wer mit CO2-Zertifikaten handelt, tut der Welt oft nicht mehr Gutes als ein Rohstoffhändler oder Hedgefondsverwalter. Jedenfalls wenn die Zertifikate auf Waldschutzprojekten basieren: Den Stein ins Rollen brachte im Januar eine breite Recherche der deutschen Zeitung «Die Zeit» und des britischen «Guardian», die zeigte, dass 90 Prozent dieser Waldschutzprojekte total überbewertet sind.
Das kommt so: Die Klima-Broker machen eine ziemlich freimütige Annahme, wie viel CO2 eingespart werden kann, wenn ein Wald unter Schutz gestellt wird und somit nicht abgeholzt werden kann. Das geschieht mehrheitlich über den wichtigsten Zertifizierer, die Organisation Verra mit Sitz in Washington. Verra macht die Regeln. Und darauf berufen sich CO2-Zertifikat-Verkäufer überall in der Welt.
Schon die Recherche der «Zeit» zeigte, dass die Annahmen um 50 Prozent darunter lagen. Zum Beispiel, weil ein per Zertifikat geschützter Wald auch ohne Schutz gar nicht abgeholzt worden wäre. Oder aber, weil die Projekte in abgelegenen Regionen mit Korruption zur Schreibtischleiche werden.
In der Folge flogen der Firma South Pole ihre freiwilligen CO2-Zertifikate um die Ohren, weil die meisten ihrer Waldschutzprojekte (in diesem Fall eines in Zimbabwe) von Verra zertifiziert und wertlos waren. Selbst South-Pole-Chef Renat Heuberger gab damals gegenüber dem «Tages-Anzeiger» zu: «Es ist unmöglich, heute zu wissen, wie hoch die Abholzungsrate in zehn Jahren ist.»
Im Juli zeigte eine Studie der ETH Zürich und der Universität Cambridge, dass nur rund 12 Prozent der CO2-Zertifikate tatsächlich zu einer Reduktion des C02-Ausstosses führen – speziell die Waldschutzprojekte.
Im August schliesslich wurde die abgeschlossene Studie, auf die sich «Die Zeit» und «The Guardian» bezogen hatten, im Wissenschaftsmagazin «Science» publiziert: Von 26 untersuchten Waldschutzprojekten auf drei Kontinenten hatten die meisten die Entwaldung nur unwesentlich verringert, so die Bilanz der Forschenden von der Freien Universität Amsterdam. Schlimmer noch: 18 dieser Vorhaben hatten auf dem Papier dreimal mehr Kohlendioxid-Emissionen vermeintlich ausgeglichen, als sie tatsächlich vermieden hatten.
Die Erklärung für diese Misswirtschaft ist simpel: Mit den Zertifikaten kann viel Geld verdient werden. Umso grösser ist die Versuchung, das eingesparte CO2 zu überschätzen. Die Forschenden schätzen den Markt auf ein Volumen von 1,3 Milliarden US-Dollar.
Weiter Autofahren – jetzt einfach mit einem guten Gewissen
Als ob dies alles nicht passiert wäre, als ob die Welt nicht verstanden hätte, dass viele CO2-Kompensationen Wunschdenken sind, stellte der Tankstellenbetreiber Socar im Sommer schweizweit Plakate auf: «Mit Velvet tanken Sie 100% C02-Kompensation».
Auf der Website von Socar wird Christa Rigozzi als Vorbild genannt: Sie sei viel unterwegs und auf ihr Auto angewiesen, gleichzeitig möchte sie ihren CO2-Ausstoss so tief wie möglich halten. «Mit Socar ist dies möglich – tanken und gleichzeitig CO2-Ausstoss kompensieren!» Immerhin hatte die Marketingabteilung wohl gemerkt, dass man «klimaneutral» inzwischen nicht mehr verwenden sollte, und einen anderen Ausdruck gewählt.
Marcus Balogh von der Pressestelle Socar Energy Switzerland sagt, man habe seit dem 1. Januar 2020 mehr als 27’900’000 Liter Benzin kompensiert. Man arbeite dazu mit dem «renommierten Unternehmen carbon-connect» zusammen.
Wie viel Socar dafür bezahlen musste, ist unklar, bei carbon-connect heisst es, der Preis sei von verschiedenen Faktoren abhängig, wie Volumen, der Art der Kompensation oder dem Land, wo dies geschehe. Die Speicherung von Kohlendioxid im Untergrund beispielsweise, könne pro Tonne CO2 mehrere hundert Franken kosten.
Kompensationen zum Schnäppchenpreis
Dass Socar für CO2-Speicherung bezahlt hat, ist unwahrscheinlich: Die 28 Millionen Liter Benzin entsprechen 66,7 Tonnen ausgestossenem CO2. Vermutlich hat Socar pro Tonne eher 20 Franken bezahlt. In diesem Bereich werden freiwillige CO2-Zertifikate mit Projekten im Ausland aktuell gehandelt. Socar nennt nebst einem Projekt im Amazonas auch solche in der Schweiz. Ab 35 Franken pro Tonne CO2 gibt es Zertifikate zum Beispiel beim Verein Wald Klimaschutz Luzern.
Waldschutz ist zweifellos wichtig, der Handel damit aber oft Greenwashing. Dennoch will keiner der in der Schweiz angefragten CO2-Zertifikat-Verkäufer darauf verzichten. First Climate führt solche Projekte weiterhin, wie auch die international tätige Firma Climate Partner. Selbst Swiss Climate, welche primär Unternehmen berät, wie sie intern den Ausstoss von Treibhausgasen reduzieren können. Als Ergänzung verkauft die Firma CO2-Zertifikate, darunter ebenfalls Waldschutzprojekte.
Die Kritik an den Waldschutzprojekten von Verra von Anfang Jahr veranlasste Swiss Climate, ihre Empfehlungen für die Kunden zu überarbeiten. Laut Nora Tanner von Swiss Climate sei ein Prüfsystem entwickelt worden, um die Qualität und Glaubwürdigkeit der Klimaschutzprojekte zu analysieren. Statt bloss Verra-Projekte zu verkaufen, würde jetzt beispielsweise darauf geachtet, dass die Projekte eine Zusatzzertifizierung hätten, welche belege, dass das Projekt «einen positiven Einfluss auf das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen hat». Und eine Liste von Ländern, wo die Projekte besonders gut angeschaut werden müssten, sei erstellt worden.
Kunden sind verunsichert
So auch bei Carbon-Connect: CEO und Gründer Pascal A. Freudenreich sagt, man lese laufend neueste Studien und prüfe dementsprechend auch die Projektauswahl. «Die Grundregel lautet, erst vermeiden, dann kompensieren. Kompensationen sollen nur in Betracht gezogen werden, um nicht vermeidbare Emissionen auszugleichen. Die CO2-Kompensation sehen wir als Brückentechnologie, bis effizientere Alternativen zur Verfügung stehen.» Er beteuert weiter beste Absichten: Es sei wichtig, dass Kompensationen «transparent, nachvollziehbar und wirkungsvoll» seien, um tatsächliche positive Auswirkungen auf die Umwelt zu erzielen.
Auch die Schweizer Stiftung Myclimate hält an Waldschutzprojekten fest. Laut Mediensprecher Kai Landwehr hat Myclimate jedoch keine grossen wie jene von Verra, sondern kleinere vom Zertifizierer Plan Vivo mit Sitz in Schottland. Da gälten strengere Kriterien, sagt Landwehr. Der Grundgedanke, Wald unter Schutz zu stellen sei gut. Blöd, wenn stattdessen einfach der Nachbarwald abgeholzt wird.
«Die Studie war ein guter Weckruf für alle», sagt Landwehr. «Allerdings hat er auch unsere Kunden verunsichert, dabei sind das meist Unternehmen, die wirklich etwas fürs Klima tun wollen, aber nicht alle können ihren CO2-Ausstoss jetzt schon beliebig reduzieren.»
Greenpeace: «Das verlangsamt den Ausstieg aus fossiler Energie»
Georg Klingler von Greenpeace kann dem wenig abgewinnen. Zu unsicher sei, dass der Wald Hunderte von Jahren erhalten bleiben werde. «Der ganze Handel mit den Kompensationen ist im besten Fall eine Nullnummer, oft richtet er sogar Schaden an», sagt er. Auf Ebene der Länder lehnt Klingler den Mechanismus gänzlich ab: «Wenn ein Land wie die Schweiz seinen CO2-Ausstoss günstiger im Ausland kompensieren kann, dann wird weniger getan, damit sich hier der CO2-Ausstoss reduziert – die aktuellen Beratungen zum neuen Co2-Gesetz zeigen das deutlich.» Das verlangsame den dringend nötigen Übergang in ein Zeitalter ohne fossile Energie.
«Leider sind Kompensationen meist kein Instrument für den Klimaschutz. Und Zertifikat-Verkäufer wie Carbon-Connect sind Teil dieses perversen Marktes», findet Klingler. Socar könne die Behauptung der Kompensation nur aufstellen, weil sie eine billige Offerte dafür erhalten habe. Die wahren Schadenskosten lägen nicht bei 20 Franken pro Tonne CO2, sondern bei über 200 Franken. «Erst ein solch hoher Preis würde dazu führen, dass Emissionen vermieden statt verlagert würden.»
Wer wirklich etwas fürs Klima tun wolle, der lasse das Auto zu Hause stehen, nehme den Nachtzug statt den Flieger und esse kein Fleisch. Den Status quo weiterzuleben, sei schlimmer, als wir annehmen würden. «Die Klimakrise ist die heftigste Bedrohung unserer Zukunft. Und wir sind nicht einmal halb auf dem Absenkungspfad, auf dem wir sein müssten.»
Auch das freiwillige Kompensieren muss reguliert werden
Klingler kritisiert, dass in der Schweiz das meiste auf Freiwilligkeit beruhe und auf dem Glauben, der Markt werde es regeln. Tatsächlich gibt es bloss für Treibstoffimporteure eine Kompensationspflicht, die ausserdem reguliert ist. Die Sanktionskosten liegen bei 240 Franken pro Tonne CO2. In diesem Markt ist CO2-Speicherung in Wäldern erlaubt, jedoch nur im Inland. Für den reinen Verzicht auf Abholzung werden keine Bescheinigungen vom Bafu ausgestellt. Bei Aufforstungen muss die Emissionsverminderung für mindestens 30 Jahre sichergestellt sein.
Doch nun tut sich was. Die parlamentarische Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie UREK zweifelte ebenfalls am Effekt der Klimaschutzprojekte im freiwilligen rasant wachsenden Markt und forderte vom Bafu einen Bericht. Er ist im März erschienen. Gestützt darauf hat der Ständerat im Rahmen der Behandlung des neuen CO2-Gesetzes das Bundesgesetz über unlauteren Wettbewerb ergänzt. Nach 2024 müssen Unternehmen demnach überprüfbare Grundlagen zur Verfügung stellen, wenn sie ein Produkt als klimaneutral bezeichnen wollen. Das Geschäft geht jetzt in den Nationalrat.
Andere Länder sind schon weiter. Um die Firmen für hochfliegende Versprechen wie «klimaneutral» oder gar «klimapositiv» zur Verantwortung zu ziehen, hat Frankreich bereits dieses Jahr strengere Regeln erlassen. Firmen können solche Behauptungen nur noch aufstellen, wenn sie sie konkret belegen können. Auch die EU plant schärfere Massnahmen gegen «Greenwashing» (siehe Box).
Myclimate verzichtet seit diesem Jahr komplett auf die Begriffe «klimaneutral» und «Kompensation» für Produkte oder Firmen. Ob eine staatliche Regulierung den Handel mit CO2 effektiver machen wird, wenn er dennoch freiwillig bleibt? Kai Landwehr von Myclimate glaubt, dass das nicht lange so bleiben wird: «Die CO2-Steuer für Unternehmen hängt in der Luft. Deshalb lohnt sich eine Investition in die Reduzierung des Treibhausgasausstosses jetzt schon.»
Dass Unternehmen wie Socar ihren Produkten einen grünen Anstrich verpassen, ist keine Seltenheit. Die Werbung mit ökologischen Versprechen floriert. Vom Handyabo der Swisscom über den Tilsiter-Käse bis zum Beton von Holcim: All das gibt es mit komplett einwandfreiem nachhaltigem Gewissen zu kaufen.
Bis das Parlament in der Schweiz neue Werbe-Regeln beschliesst, kann grundsätzlich jedes Unternehmen von seinen Produkten behaupten, sie seien «klimaneutral», «natürlich» oder «biologisch abbaubar», ohne dies beweisen zu müssen.
Zwar könnte auch solche Werbung unter das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb fallen und als irreführend oder unrichtig eingestuft werden. Doch die Hürden dafür sind hoch. Es kommt deshalb nur selten zu Abmahnungen des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco. Im Februar beispielsweise wurden die Oberengadiner Bergbahnen abgemahnt, weil diese damit geworben hatten, Skifahren sei bei ihnen CO2-neutral. Im Juli reichte der Konsumentenschutz beim Seco Beschwerde ein gegen acht Firmen, die behaupteten, klimaneutral zu sein. Darunter die Swisscom, Coca-Cola, Babynahrungsproduzent Hipp und der Zoo Zürich. Der Vorwurf: «Viele Kompensationsprojekte ändern nicht viel an der tatsächlichen CO2-Konzentration in der Atmosphäre.»
Wer gegen mutmasslich überzogene Umweltversprechen vorgehen will, hat bei der sogenannten Lauterkeitskommission bessere Chancen. Die Selbstregulierungsorganisation der Branche betont, die Beweislast liege beim Werbetreibenden und sei hoch. Das heisst: Wer Ökologie verspricht, muss seine Aussagen belegen können. Allerdings sind die Entscheide des Gremiums nicht bindend, sondern lediglich Empfehlungen.
Kürzlich hat die Kommission die Fifa für unlautere Aussagen ihrer Öko-Werbung gerügt. Der Verband hatte «den falschen und irreführenden Eindruck erweckt, die Fussballweltmeisterschaft 2022 in Katar sei bereits vor und während des Turniers klima- beziehungsweise CO2-neutral», so die Kommission. Sie hiess die Beschwerden aus fünf Ländern gut, weil die Fifa keine «definitiven und allgemein akzeptierten Methoden zur Messung der Nachhaltigkeit oder zur Sicherung ihrer Durchführung» vorlegen konnte.
Auch Socar, das mit «100 Prozent CO2-Kompensation tanken» wirbt, müsste also konkret nachweisen, wie sie dieses Versprechen einlöst. Ob die Beweisführung vor der Lauterkeitskommission Bestand hätte, ist offen – es liegen bisher keine Beschwerden gegen diese Werbung vor. Klar ist: Der Druck auf die Firmen, ihre Versprechen zu belegen, wächst. Letzte Woche hat die Grünen-Nationalrätin Sophie Gigon eine parlamentarische Initiative eingereicht mit dem Ziel, den Rechtsstatus «Nachhaltige Unternehmung» für KMU zu schaffen. «Diese Anerkennung ist dringend notwendig, um mehr Unternehmen zu ermutigen, sich der Nachhaltigkeit zu verpflichten», sagt sie. (mpa)