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Mike Müller spielt «Klassentreffen» und schäumt noch heute: «Manche Lehrer waren stinkfaul!»

Eigentlich ist er Philosoph, das hat er 27 Semester studiert. Geld verdient Mike Müller allerdings als autodidaktischer Komödiant im Theater. Im Gespräch über sein neues Solo-Programm riskiert er einen Shitstorm und erklärt mit deutlichen Worten die Erfolglosigkeit des Schweizer «Tatort».

Man muss ihm nur ein Stichwort anbieten, und Mike Müller übernimmt. Ein Gespräch mit dem «Bestatter» national, kurz vor seinem 60. Geburtstag und zum Anlass seines aktuellen Solo «Klassentreffen» ist ein Pulverfass. Emotionen, Anekdoten und Gossip übers Filmgeschäft, Müller hat sie alle. Dass seine Schulzeit zumeist horribel gewesen sei und er eine Nuss in mathematischen Fächern war, erzählt er wohl. Stimmen muss es trotzdem nicht. Denn Müller selbst weiss: «Die Erinnerung ist ein Seckel!»

Sie steigen für Ihr neues Solo «Klassentreffen» tief in Ihre Vergangenheit. Ehrlich, falls das denn möglich ist, waren Sie ein guter Schüler?

Mike Müller: Im Gymnasium habe ich mich schwergetan, ich bin auch einmal sitzen geblieben.

Das heisst, Sie lernten schwer, oder Sie hatten auf den Schulbetrieb ganz einfach null Bock?

Ich fand die Schule teilweise furchtbar. Damals konnte ich es nur noch nicht so gut begründen wie heute.

Und, bitte, wie lautet die Begründung?

Als ich während meines Studiums selber zu unterrichten begann, merkte ich, dass manche meiner Lehrer stinkfaul waren. Das Autoritäre hat ihnen sicher den Alltag erleichtert, ich fand’s einfach nur doof. Bis heute.

Das klingt nach Wut bis heute . . .

Nein, ich hatte ja auch tolle Lehrer, fast keine Lehrerinnen übrigens. Aber den jahrelangen Lateinunterricht, in dem immer eine einzige Person am Übersetzen ist: verlorene Zeit. Wir hätten gescheiter mal ein Linguistikum gemacht, sprachlichen Ausdruck geübt, aber Vokabeltests: Das macht man besser an einem Compi.

Ihr Rückblick auf Ihre Schulzeit ist ausnahmslos vernichtend?

Ich konnte in Olten Schultheater machen, das war sehr wichtig für mich. Aber die Schule dauerte viel zu lang, und die Vorherrschaft der Naturwissenschaften war falsch. Chemie, Physik hat mich furchtbar gequält, vor der Mathematik hatte ich Angst. Why? Ich denke rückblickend, dass es sich in der Schule ein paar Leute mit gutem Lohn und sehr wenig Wochenstunden recht einfach gemacht haben. Leute, die Kultursubventionen schwierig finden. Da denke ich, hey Guzzi, Du warst subventioniert und hattest nicht mal einen überprüften Leistungsauftrag.

Primarschüler Mike in Zuchwil oder Trimbach. Die Begeisterung für Figuren und sein Lächeln hat er mit ins Erwachsenenleben gerettet.
Privatarchiv Mike Müller

Man könnte sich denken, solche Erfahrungen sind für einen Schauspieler ein gefundenes Fressen.

Sicher, mein Schulsport war die Parodie: Im Gespräch mit dem Französischlehrer diesen zu parodieren, und er merkt es nicht, doch die Mitschüler lachen! Das ist ein Antrieb für jede und jeden, der später performt.

Also doch auch das Klassenzimmer als Probebühne?

Ich hatte ja so viel Zeit, man musste sich ein bisschen ausprobieren. Es wäre die Aufgabe der Lehrer gewesen, mich zu beschäftigen, ich habe mir eben selber geholfen.

Sie schildern Ihre Schulzeit so anschaulich, dass man annehmen kann, Sie verfügen über ein gutes Gedächtnis . . .

Es wäre kokett, wenn ich behaupten würde, ich hätte ein schlechtes. Immerhin habe ich drei 80-minütige Solostücke im Kopf. Ich muss so viel auswendig lernen, mir Bewegungen merken, da wünschte ich mir, ich hätte ein perfektes Gedächtnis.


Was ist Ihre früheste Erinnerung?

Wahrscheinlich ein Fetisch wie Spielzeug oder das Dreiradvelo, aber ich habe Schwarz-Weiss-Fotos im Kopf. Erinnere ich mich also an das Foto oder den Gegenstand? Und sehr genaue Bilder von Wohnungen, in denen wir gelebt haben. Meine Eltern waren Leser, mein Vater war Lehrer, ein grosses Büchergestell. Vor dem dann meine etwas dümmeren Tanten jeweils fragten: «Alles gelesen?» Aber ich würde ja behaupten, die Erinnerung ist ein Seckel, sie täuscht einem immer wieder.

Wenn sich das Hirn erinnert, füllt es Wissenslücken mit Bildern so auf, damit uns am Ende alles stimmig und logisch erscheint. Kennen Sie das ?

Aber sicher, ich bin ja Schauspieler. Und ich gebe mir Mühe, kein Kantinenschauspieler zu werden. Das sind die Kollegen, die nach der Vorstellung in der Kantine lustiger als auf der Bühne sind. Man erzählt Geschichten, schmückt sie aus, übertreibt, das hat auch mit Alkohol und Adrenalin zu tun. Am Schluss hat die Geschichte nur noch wenig mit der ursprünglichen Anekdote zu tun, denn unser Leben ist ja doch nicht ganz so spannend, wie wir Schauspieler es gerne hätten. Das Ausschmücken, Übertreiben und das Mass an Wein, das man dazu trinkt, kenne ich sehr gut.

Gibt es Dinge, bei denen Sie später feststellten, dass Sie sich völlig falsch erinnert haben?

Natürlich, ich bin schon oft über mich erschrocken, wie mich mein Gedächtnis im Stich lässt, und wie leicht man verdrängt. Oder bei Beziehungen, die auseinandergehen: Man erinnert gemeinsame Zeiten oft ganz unterschiedlich. Das kann sehr traurig sein.

Das ist Ihnen persönlich passiert?

Ja. Traurig, ist für mich aber nicht traurig ausgegangen.

Klassentreffen sind verschärfte Konfrontationszonen der Erinnerung .

Mehr als das hat mich am Thema die Erwartungen an das Leben interessiert, die man als Schüler hatte und die man jetzt hat. Dabei sollte man vermeiden, gewisse neoliberale Strukturen als eigenen Verdient zu missverstehen. Sagen Sie mal einer afghanischen Flüchtlingsfrau mit vier kleinen Kindern, die vergewaltigt wurde:«Du kannst alles erreichen, was immer Du willst!» Schleich Di! An «Klassentreffen» hat mich interessiert, welches die strukturellen Entwicklungen sind, die wir zu unserer persönlichen Leistung umdeuten. Dazu, und das betrifft auch meine Generation, kommt das Genderthema.

Das heisst?

Unsere Väter hätten ohne unsere fleissigen Mütter niemals den Lohn nach Hause bringen können! Sie hielten ihnen, wie man sagt, «den Rücken frei», allein dieser Ausdruck! In meinem Stück mache ich keine Analyse, aber wir sind die Generation Boomer, die den Aufstieg noch knapp miterlebt hat, und die jetzt mit dem Abstieg konfrontiert ist.

Welche Erwartungen hatte denn damals Schüler Mike Müller ans Leben? Und, haben sie sich erfüllt?

Nein, sie haben sich nicht erfüllt, weil ich von meinem späteren Leben keine Vorstellung hatte. Und ich musste keine haben, weil ich das Privileg jener Zeit besass: Wir konnten gross werden, ohne dass man sich um die Zukunft sorgen musste, oder um einen Job und andere bürgerliche Sicherheit. Ich konnte einen Beruf wählen, der ohne die Sicherheit ist, dass man davon irgendeinmal gut leben kann. Wie das heute bei mir der Fall ist. Ich hätte mir jahrelang ein paar tausend Franken Reserve gewünscht, ich hatte sie nicht. Aber ich hatte immer Wein. «Mont Vully» vom Murtensee oder «Côtes du Rhône» für sechs Franken die Flasche aus dem Supermarché gleich hinter der Grenze.

Ihr grösster Erfolg, die Titelrolle des Bestatters Luc Conrad, die Sie während sechs Jahren begleitete, hat zweifellos Ihre Weine etwas teurer gemacht. Inwiefern wirkt die Figur überdies nach?

Es war halt auch inhaltlich spannend, über den Tod nachzudenken. Auch im «Klassentreffen» geht es um den Tod. Er spielt jedenfalls in meinen letzten Arbeiten immer wieder eine Rolle. Ich habe stets gesagt, der «Bestatter» war die am einfachsten zu spielende Rolle in der Serie. Ich konnte immer zwei Dinge gleichzeitig tun, bestatten und ermitteln. Zwei Sachen zu tun ist viel einfacher als nur dumpfbackig verliebt sein. Deswegen denkt man in Soaps oft: «So schlechte Schauspieler!» Stimmt natürlich nicht, sie müssen einfach Quatsch spielen.

Danke fürs Stichwort: Sagen Sie uns, wo hakt es beim Schweizer «Tatort»?

Das Konzept war von Anfang an schlecht, ich habe nie gewusst, wie man die Idee umsetzen soll. Ich fand auch die Leute nicht gut, die den «Tatort» konzipiert haben. Intern, beim Fernsehen habe ich meine Kommentare ein paar Mal gemacht, ich möchte sie nicht öffentlich machen. Das ganze Backstory-Gesocks der Figuren, das man damals auch als «Bestatter» von mir forderte, lasst mich in Ruhe damit!

Backstory meint das biografische Material, die Hintergrundgeschichte, die das Verhalten der Figuren offenbaren soll.

Drehbuchautoren und -autorinnen sollen kreativ sein, aber sie sind keine Superpsychologen. Ich habe gesagt: «Kann ich zu euch in die Psychoanalyse kommen? Es würde mich interessieren, jemand der von einem Charakter alles weiss!» Ich will vielleicht gar nicht alles wissen von meiner Figur. Auch ich selbst als Darsteller möchte mich gerne von meiner Figur überraschen lassen.

Wenn Sie das «Konzept» des «Tatort» falsch finden, denken Sie woran genau?

Gute Schauspielerinnen, gute Regisseurinnen, genug Budget. Müsste eigentlich machbar sein. Und wenn man nur noch Frauen auf die Positionen Buch, Regie, Kostüm und so weiter setzt, wird es auf die Vergangenheit bezogen gerechter – aber nicht unbedingt besser.

Diese letzte Aussage könnte Ihnen einen Shitstorm einbringen, Herr Müller!

Es wäre nicht der erste. Natürlich finde ich, dass grosse Crews gemischtgeschlechtlich sein sollen. Bei kleinen Teams ist das logistisch zum Teil nicht möglich. Aber wir wissen alle, in gemischten Teams, ob bei der Armee oder im Film, spricht man anders, und das ist schon mal viel. Anders als wenn auf dem Set nur müde, überforderte, mit Adrenalin aufgepumpte Typen herumsitzen – wie ich.