Die «Stumme Glocke» von Aarau: Erst war’s ein Blitz, jetzt Künstler Roman Signer
Es hat schon fast etwas Geisterhaftes, diese Szenerie. All diese murmelnden Gestalten in regennassen Mänteln, auf dem düsteren Areal der Glockengiesserei H. Rüetschi AG am Rain versammelt. In gleissendes Licht getaucht ist nur: eine Kirchenglocke. Umgekippt, zum Schweigen gebracht. Doch der Klöppel liegt nicht, er steckt keck und mittig im Beton.
Diese Glocke, die «Stumme Glocke», ist das neuste Werk von Roman Signer. Der 85-jährige Bildhauer, Zeichner, Aktions- und Konzeptkünstler aus St. Gallen gilt als einer der wichtigsten Schweizer Künstler der Gegenwart. Nach dem Kajak, das seit 1998 jeden Frühling in der Stadtbachrinne hinter dem «Roschtige Hund» gewassert wird, und der Ventilatoren-Installation «Durchzug» im Bahnhof (2016) ist die «Stumme Glocke» sein drittes Aarauer Werk im öffentlichen Raum. Am Montagabend wurde sie im Beisein des Künstlers sowie Vertreterinnen und Vertretern von Politik und Kultur eingeweiht.
Die Glocke ist zweifach verstummt
«Aarau ist nun quasi Signer-Stadt», sagte Galerist Carlo Mettauer in seiner Einführung. Doch auch das dritte Werk habe viel Vorlaufzeit gebraucht. Beim Apéro anlässlich der Einweihung der Ventilatoren sei es gewesen, getreu dem Bonmot von allen guten Dingen und der Drei. «Als Roman von seiner Idee geschwärmt hat, habe ich ihm von unserer Glockengiesserei erzählt.» Und so habe eines das andere ergeben. «Roman hat nicht mehr locker gelassen», so Mettauer weiter. Doch ohne CEO Jari Putignano und seinem Team der Glockengiesserei wäre das Projekt nicht zum Fliegen gekommen.
Jetzt liegt sie also endlich da. Genauso, wie Signer es sich vorgestellt hat. Eine echte Rüetschi-Glocke mit 1,6 Tonnen Eigengewicht, mit Beton sind es sogar zwei Tonnen. Eine doppelt stumme Glocke ist es noch dazu: Ursprünglich 1895 für die Waadtländer Gemeinde Aubonne gegossen, liess ein Blitzschlag sie vor rund 30 Jahren ein erstes Mal verstummen.
Was sie nun erzählt? Ein philosophisches Thema, ein zeitpolitisches noch dazu. Ist es eine verstummte Friedensglocke? Ein Sinnbild für den Mitgliederschwund der Kirchen, das Verstummen von Glocken, weil es die Anwohnenden stört? Oder eine Hommage an das Kerngeschäft der ältesten Glockengiesserei der Schweiz, die heute kaum noch Glocken giessen kann, weil keine Kirchen mehr gebaut werden? «Da kann sich jeder selbst ein Bild machen», so Mettauer. Und vielleicht löse es etwas aus – oder eben nicht.
Signer windet Aarau ein Kränzchen
Für Roman Signer jedenfalls ist die «Stumme Glocke» eine Herzensangelegenheit, wie er bei der Positionierung der Glocke ein paar Tage zuvor erzählt hat. Für ihn erzähle sie viele Geschichten, vor allem aber die der leeren Kirchen. Sie nun nach all den Jahren hier liegen zu sehen, mache ihn glücklich und zufrieden.
Auf die Frage, ob er Aarau als Signer-Stadt sehe, schüttelt er lachend den Kopf. «Das hat sich einfach so ergeben, Aarau bleibt Aarau.» Aber er windet der Stadt ein Kränzchen; ob er drei Kunstwerke in seiner Heimatstadt St. Gallen hätte aufstellen können, da sei er sich nicht sicher. «Aarau ist offener.»
Apropos: Das kommende Jahr steht für Signer ganz im Zeichen der Ausstellung im Kunsthaus Zürich, die für 2025 geplant ist. Nur eine einzige Ausstellung wird es 2024 geben: Im Mai 2024 in der Galerie 6 in Aarau, anlässlich von 25 Jahre Kajak-Wasserung. «Etwas Bescheidenes», sagt Signer. «Aber etwas Schönes.»