«Literatur ist nichts für Idioten»: Die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sprach im Pfalzkeller über ihren neuen Roman «Empusion»
Wir leben in einer vernunftorientierten und durchgetakteten Zeit. Im Advent aber lassen wir den Traditionen gern mehr Raum, erzählen alte Geschichten und singen zusammen die überlieferten Lieder. Trotzdem haben am ersten Adventssonntag nicht wenige den erleuchteten Weihnachtsbaum und die Weihnachtsmelodien auf dem Klosterhof rechts liegen gelassen und sind dem Pfalzkeller zugestrebt. Denn: Das Literaturhaus St.Gallen lud zu einer Lesung mit Olga Tokarczuk – und eine Literatur-Nobelpreisträgerin erlebt man in St.Gallen nicht jedes Jahr. Der Saal war schliesslich bis auf den letzten Platz besetzt.
Welches Kulturerbe geben wir weiter?
Traditionen sind indes auch für die polnische Autorin Olga Tokarczuk wichtig. Ihre Werke nehmen Bezug auf die jüdische Kabbala ebenso auf wie alte Naturmystik – und natürlich die Literaturgeschichte. Sie habe sich als Jugendliche durch das Büchergestell ihrer Eltern gelesen: Thomas Mann, Franz Kafka, Robert Musil, Joseph Roth usw. Sie liebe diese Literatur, sagt Tokarczuk, «ohne Thomas Mann wäre ich nie Autorin geworden».
Aber als ausgebildete Psychologin frage sie sich: Was macht das mit uns? Können wir unsere Kinder noch in die Bibliothek schicken? Welches Kulturerbe geben wir weiter? Die Klassiker seien von Männern für Männer geschrieben worden. Tokarczuk sieht sich allerdings nicht als Zerstörerin der Tradition, sondern als ihre Fortschreiberin – aus der Perspektive der Frau.
Olga Tokarczuk hat 2019 den Literaturnobelpreis für 2018 erhalten. «Empusion», auf Deutsch erschienen 2023, ist ihr erster Roman danach. Er spielt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im niederschlesischen Görbersdorf (heute Sokołowsko), unweit vom heutigen Wohnort Tokarczuks. Das Dorf war damals ein Tuberkulose-Kurort und eine Blaupause für Davos. Umgekehrt dient Thomas Manns «Zauberberg» nun als Blaupause für «Empusion»; Tokarczuk nennt ihren Roman den «kleinen östlichen Cousin des Zauberbergs». Wie die Figuren Castorp, Settembrini und Naphta in Davos debattieren in Görbersdorf Lukas, August und Frommer über Lebensphilosophien.
Misogyne Herrendebatten
Und sie diskutieren über das Wesen der Frau: Das Gehirn der Frau sei kleiner und ganz anders aufgebaut. «Wo beim Mann der Sitz des Willens ist, befindet sich bei der Frau die Begierde. Und wo beim Mann das Verständnis für Zahlen und allgemeine Strukturen angesiedelt ist, sitzt bei den Frauen die Mutterschaft.» Solche Aussagen bleiben beim Abendessen in der Herrenrunde unwidersprochen. Tokarczuk hat das alles nicht erfunden, aber durchaus mit einer gewissen Boshaftigkeit montiert.
Im Abspann des Romans listet sie auf, wo sie die misogynen Passagen gefunden hat – eine illustre Liste mit Autoren (maskulin!) von Weltrang. Obwohl sie in ihren Reden rational argumentieren, sind die Männer im Roman alle wie verhext von der mythischen Kraft der Natur, verkörpert durch die Tuntschis. Tokarczuk hat hier eine Legende aus der Schweiz flugs nach Schlesien überführt.
Die Tuntschis seien ein lokales Abbild der Empusen, der antiken Schreckensgöttinnen, erklärt Tokarczuk. Und sie könnten ebenso gut in der schlesischen Mythologie vorkommen. Ihre Aufgabe als Autorin begreift sie als Synthetisieren: Es gehe darum, Verbindungen zu schaffen und aufzuzeigen. Der Titel «Empusion» ist denn auch eine Verbindung der Empusa mit dem Symposion Platons, das unser Verständnis vom Philosophieren geprägt habe.
Eine eloquente und zugewandte Autorin
Am Abend im Pfalzkeller zeigen die Lesungen aus dem Buch beides: die Herrendebatten wie die poetische Naturmystik. Boglárka Horváth las die Passagen sehr stimmig, leicht inszeniert. Am Tisch mit Olga Tokarczuk sassen Isabelle Vonlanthen vom Literaturhaus Zürich als Übersetzerin, das Gespräch führte Lothar Quinkenstein, einer der Übersetzer des Romans. Er frage Tokarzcuk am Schluss nach der Rezeption von «Empusion» in Polen. «Alle diskutierten über meine Aussage, dass Literatur nichts für Idioten sei», erzählte die Autorin und hatte damit die Lacher all der anwesenden Nichtidioten auf sicher. Überhaupt war es ein Genuss, Olga Tokarczuk zuzuhören. Sie erwies sich als eloquente und dem Publikum zugewandte Autorin, die bereitwillig Schicht für Schicht ihres Romans freilegte.