Kein anderer Schweizer Politiker legte sich mit derart gefährlichen Gegnern an: Mafia-Jäger Dick Marty ist verstorben
Am Donnerstag ist Dick Marty in seinem Haus in Fescoggia im Malcantone im Tessin gestorben. Er erlag einem Tumor. Der ehemalige Ständerat der FDP wurde 78 Jahre alt.
Sein Tod machte die Leute, die ihn näher kannten, gestern tief betroffen. Denn Dick Marty war eine Ausnahmepersönlichkeit, er war kein gewöhnlicher Politiker, schon gar kein Parteisoldat. Simonetta Sommaruga, 63, frühere Bundesrätin der SP, hält schlicht und einfach fest: «Dick Marty war einer der aufrechtesten, ehrlichsten und geradlinigsten Politiker, die ich je gekannt habe. Von ihm habe ich viel gelernt.»
Sommaruga gehörte zu jenen, die mit Dick Marty befreundet waren und bis am Schluss in Kontakt mit ihm standen. Wie Franco Cavalli, 81, ehemaliger Tessiner SP-Nationalrat und Fraktionschef der Bundeshausfraktion. Der Onkologe begleitete Marty bis am Schluss. «Er war einer meiner besten Freunde», sagt Cavalli, offensichtlich tief bewegt. Wie Sommaruga zeichnet Cavalli das Bild eines feinen Menschen, der unabhängig und unbestechlich war.
Für Cavalli war Dick Marty einer der letzten wirklichen Freisinnigen. Obwohl mit dem Alter linker geworden, sei er immer ein Freisinniger geblieben, ein Radikaler, aber im ursprünglichen Verständnis der Gründerväter der FDP: «Im Sinn, dass die Leute frei sein sollen.» Als Calvinist habe Marty strenge moralische Ansprüche an sich selbst wie an andere gestellt. Bei seinen Prinzipien sei er keine Kompromisse eingegangen, sagt Cavalli: «Sonst wäre er wohl Bundesrat geworden.»
Marty entfernte sich von der FDP, oder die FDP entfernte sich von Marty. Je mehr sie sich an der SVP statt an sich selbst orientierte, desto weiter.
Die Entfremdung zeigte sich im Jahr 2020 beim Streit mit Karin Keller-Sutter im Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungsinitiative. Marty warf Keller-Sutter vor, sie lüge. Ihn habe das Verhalten der damaligen Justizministerin, seiner Parteikollegin, sehr betroffen gemacht, weiss Cavalli.
Dick Marty, früherer Tessiner Staatsanwalt und Regierungsrat, war einer der international bekanntesten Schweizer. Er sorgte für Aufsehen mit mehreren internationalen Untersuchungen. Dabei ging er auch persönlich hohe Sicherheitsrisiken ein. Die erste war jene für den Europarat über CIA-Geheimaktionen in Europa. Marty erhob 2007 schwere Vorwürfe insbesondere gegen Polen und Rumänien, wo die Amerikaner im Nachgang zu den Terroranschlägen von New York Geheimgefängnisse betrieben.
Marty kritisierte aber auch Italien und Deutschland, weil diese Länder seine Ermittlungen behinderten. Sein Verhältnis zu den USA war danach nachhaltig gestört. Marty sei nicht mehr in die USA gereist, erinnert sich Franco Cavalli, weil er befürchtet habe, dass man ihm die Einreise verweigern oder ihn zur Befragung festhalten könnte.
Serbische Attentäter: Marty enttäuscht von Bundesrat
Aber gefährlicher waren die Gegner, mit denen es Marty 2010 aufnahm, als er, erneut Sonderermittler des Europarats, seinen Bericht über Verbrechen der kosovarischen Befreiungsarmee UCK veröffentlichte. Darin belastete er namentlich den späteren Präsidenten Kosovos, Hashim Thaci. Diese Untersuchung sollte Marty zehn Jahre später brutal einholen.
Im Dezember 2020 wurden Attentatspläne einer Gruppe von extremistischen serbischen Geheimdienstleuten bekannt: Diese hatten vor, Marty umzubringen und die Schuld für die Tat Kosovo anzuhängen. Der Bundesrat bot eine Spezialeinheit der Armee zum Schutz des ehemaligen Ständerats auf. Jahrelang, bis fast am Schluss, lebte Marty danach unter höchstem Polizeischutz. «Deprimierend» für Marty war dabei, wie er einmal sagte, dass der Bundesrat ihn zwar beschützen liess, aber nicht bereit sei, den Rechtsstaat durchzusetzen und die Kriminellen zu verfolgen. Marty vermutete, die Regierung wolle es sich aus aussenpolitischen Gründen nicht mit Serbien verderben.
Im Tessin genoss der ehemalige Staatsanwalt bei Polizisten wie dem ebenfalls kürzlich verstorbenen Undercover-Agenten Fausto Cattaneo eine Art Heldenstatus: Von keinem anderen Staatsanwalt sprachen viele so gut wie von Marty, der ihnen kompromisslose Rückendeckung bei ihrer Arbeit gegen die Mafia, die organisierte Kriminalität, gegen Drogen-Kartelle gegeben habe. Marty war einer der ersten Strafverfolger, die der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität entschlossen den Kampf ansagten. Dass er dabei auch die Rolle der Banken kritisch hinterfragte, gefiel nicht allen in der FDP.
Das war am Donnerstag vergessen. Über Twitter würdigte FDP-Präsident Thierry Burkart den Verstorbenen: «Sein Einsatz für Rechtsstaat und Menschenrechte werden in dankbarer Erinnerung bleiben.»
Das letzte Buch: Eine Art Vermächtnis
Als er erfuhr, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, entschloss sich Dick Marty, ein letztes Buch zu schreiben. Übersetzt heisst der Titel etwa: «Respektlose Wahrheiten. Gedanken eines Magistraten unter Personenschutz.» Dieses Buch sei, sagt Franco Cavalli, Dick Martys Vermächtnis. Sehr persönliche Gedanken, sehr unverblümte.
Marty selbst sagte in einem Interview mit den «Corriere del Ticino», er habe das Buch zunächst für sich selbst schreiben wollen. Dann habe er sich gedacht, es könnte nützlich sein, gewisse seiner Erfahrungen zu teilen. Und er sagte, er habe immer ohne Berechnung gehandelt. «Ich habe auch dafür bezahlt. Aber es ist etwas, das mir ein besseres Gefühl gab. Wenn ich es nicht getan hätte, könnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen.»