Sucht, Suizid und Schmerz: Was diese Frauen durchmachten, bevor sie Zuflucht im Wohnhaus von Refugio Aargau fanden
Eine Vase mit roten Tulpen steht auf dem Tisch neben dem hellblau bezogenen Sofa, auf dem es sich ein Plüschdino und ein Teddybär gemütlich gemacht haben. In der rechten Ecke der Stube steht ein Vogelkäfig, in dem zwei Stofftier-Wellensittiche sitzen. «Sie sind Platzhalter für die echten Wellensittiche, die ich bald anschaffen werde», sagt Rosmarie Meier mit einem Lächeln.
Die 78-Jährige ist seit 1985 in einer Zweizimmerwohnung am Moserweg 2 in Baden zu Hause. Ihr Daheim befindet sich im Wohnhaus Baden des Vereins Refugio Aargau. Er vermietet an diesem Standort 37 Zimmer und drei Wohnungen zu günstigen Konditionen an Frauen in Übergangssituationen und Lebenskrisen. Die temporäre Bleibe ist für Meier längst zum festen Daheim geworden. «Hier zu leben, gibt mir Halt», sagt sie.
Die Seniorin zog an einem verschneiten Dezember vor 39 Jahren von der offenen Abteilung der psychiatrischen Klinik Königsfelden nach Baden. Zuerst in ein Zimmer im zweiten Stock. Seit gut 20 Jahren lebt sie in der Wohnung im Parterre. «Alleine in einer normalen Wohnung hätte ich mich zu einsam gefühlt. Das Gemeinschaftliche hier gefällt mir», sagt Meier.
Psychische Probleme und Abstürze hätten sie immer wieder nach Königsfelden gebracht. Meier spricht von ihrer Alkoholsucht, von Therapien und Entzugskliniken, aber auch vom schmerzhaften Suizid eines guten Freundes.
Der Alkohol nahm ihr die Hemmungen
«Ich habe zehn Jahre lang an der Kasse in der Migros in Wettingen gearbeitet. Nach Arbeitsschluss sind meine Kollegen und ich in die gegenüberliegende Bar gegangen und haben etwas getrunken. So bin ich langsam in die Sucht hineingerutscht», erzählt sie. Als Kind und junge Frau sei sie sehr schüchtern gewesen. «Der Alkohol nahm mir die Hemmungen.» Gleichzeitig konnte sie die Missbräuche in ihrer Kindheit betäuben.
Trotz Alkoholexzessen sei sie nie arbeitslos gewesen. «Wer saufen kann, kann auch arbeiten. Das war mein Motto», sagt Meier, die 29 Jahre lang als Logistikerin im Lager für Jelmoli und später Globus in Otelfingen tätig war.
Ihr gefällt die zentrale Lage ihres Daheims. «Wenn ich Lust habe, nehme ich den Zug und fahre durch die Schweiz. In fünf Minuten bin ich am Bahnhof.» Gerne verbringt Meier auch Zeit im Begegnungszentrum Hope des gleichnamigen Sozialwerks an der Stadtturmstrasse. «Dort jasse ich mit andern oder treffe mich zum Stricken.»
Meier ist dankbar, dass sie im Wohnhaus von Refugio Aargau ihren Lebensabend verbringen darf. «Ich gehe hier nicht mehr weg, erst wenn ich ins Altersheim muss. Meine Wohnung und meine Nachbarinnen sind mir wichtig.»
Eine langjährige Nachbarin und inzwischen gute Freundin von Rosmarie Meier ist Lucilia Carvalho. Die 66-Jährige lebt im ersten Stock in einem Zimmer. Die Treppen hoch kommt sie an diesem Tag wegen ihres verstauchten Fusses nur schwer.
Eingeschränkte Mobilität ist nichts Neues für Carvalho. 2002 diagnostizierte man bei ihr Fibromyalgie, auch bekannt als Weichteilrheuma. «Ich habe Schmerzen im ganzen Körper. Je nachdem, was ich esse und wie oft ich mich bewege, kann ich diese in Schach halten», sagt Carvalho.
Um weiterhin als Patissière im Restaurant des Grand Casinos Baden zu arbeiten, setzte sie auf Kortisonspritzen. «Innerhalb von zwei Jahren nahm ich 30 Kilogramm zu», erzählt sie. Es folgten Kuren und Auszeiten. «Manchmal arbeitete ich Teilzeit. Sobald ich mich wieder besser fühlte, erhöhte ich mein Pensum auf 100 Prozent.»
Krankheit zwang sie dazu, ihre Stelle aufzugeben
2013 musste sie nach 22 Jahren im Einsatz schweren Herzens ihre Stelle beim Grand Casino aufgeben. «Nach dem Ende meiner Berufstätigkeit konnte ich mir die Miete für meine Wohnung in Wettingen nicht mehr leisten», sagt Carvalho, die 1977 ihre Heimat Angola aufgrund des damals herrschenden Bürgerkriegs verliess.
Carvalho wurde auf das Wohnhaus in Baden von Refugio Aargau aufmerksam gemacht. «Ich dachte, ich bleibe zwei, drei Jahre. Jetzt wohne ich schon seit fast elf Jahren hier.» Ihr kleines Zimmer ist gemütlich eingerichtet. Einen grossen Platz nimmt ihr Kühlschrank ein. «Derjenige in der Gemeinschaftsküche ist viel zu klein», sagt sie und lacht.
Im privaten Kühlschrank bewahrt sie unter anderem die Zutaten für ihre Tortenkreationen auf. Carvalho wischt über ihr Handy und zeigt Fotos von filigranen Kindergeburtstagskuchen mit allerlei tierischen Motiven aus Fondant oder mehrstöckigen Hochzeitstorten mit echt anmutenden Blüten. «Das ist mein Hobby und gleichzeitig eine Meditation und Therapie für mich. Ich kann ohne Stress und je nach Schmerzen die Kreationen gestalten.»
Aus der Unterkunft auf Zeit ist auch für Carvalho ein festes Zuhause geworden. «Ich brauche nicht mehr. Den Winter verbringe ich meist bei meiner Familie in Angola.» Sie sei zufrieden mit ihrem Leben und schäme sich nicht dafür, dass ihr Daheim halt hier im Frauenwohnhaus sei. «Der Ort ist zentral, mein Arzt, mein Therapeut und alles, was ich benötige, sind in der Nähe. Für eine kranke Person wie mich ist dieses Zuhause ideal.»