Die Hälfte unserer Lebenszeit verdienen wir unser täglich Brot nicht selbst
Lohnarbeit muss schrecklich sein. Nur so lässt sich erklären, dass die Renteninitiative, welche vorsieht, das Rentenalter an die Lebenserwartung zu koppeln, an der Urne voraussichtlich keine Chance haben wird. Herr und Frau Schweizer planen offensichtlich schon jetzt ihren letzten Lebensabschnitt, und wenn der auch nur ein Jahr hinausgezögert wird, geht das gar nicht. Geschweige denn, dass man ab 2043 erst mit 67 Jahren in Rente gehen könnte. Oder – falls es uns gesundheitlich tatsächlich immer besser gehen wird – 2070 erst mit 69 Jahren.
Aus der Perspektive der Tourismusregionen ist das natürlich verständlich: Je später die rüstigen Rentner aufhören zu arbeiten, desto später beginnen sie zu reisen und zu konsumieren. Das Rentenalter als Konsumalter – so war das ursprünglich nicht gedacht. (Die Geschichte Derahv Pdf)
Als die AHV 1948 eingeführt wurde, lebte ein 65-jähriger Schweizer Mann durchschnittlich noch 1,4 Jahre. Heute bleiben 16 Jahre. Frauen leben im Durchschnitt noch 20 Jahre von Geld, das andere für sie verdienen.
Ja, natürlich haben die Rentnerinnen und Rentner auch Geld einbezahlt. Oder (meist) Frauen haben mit ihrer Betreuungsarbeit dafür geschaut, dass der Mann 100 Prozent arbeiten und einbezahlen konnte, als Kinder da waren. Und dennoch ist mit den Jahren der Lebensabschnitt als Rentnerin oder Rentner immer grösser geworden. Und ein selbstverständlicher Zustand.
Manche 40-Jährige zählen jetzt schon rückwärts, wie lange es bis dahin zu geht und wissen, was sie dann machen wollen. Statt dass sie ihr Arbeitsleben so gestalten, dass sie damit einigermassen zufrieden sind.
Nein, das ist nicht allen möglich. Es gibt viele Jobs mit eintöniger Arbeit und solche, die den Körper verschleissen, sodass die Rückenschmerzen zum Beispiel eines Gipsers schon mit 55 Jahren so stark werden, dass er sich umschulen und dann auch noch eine Stelle finden muss.
Aber dass Personen mit 65 Jahren sich standardmässig aus dem Erwerbsleben verabschieden, macht dennoch keinen Sinn heutzutage. Gerade bei Büroarbeit. Auch, weil längst nicht alle die Pension herbeisehnen: Viele müssen den Sinn ihres Daseins erst mal wieder finden, weil «das Leben geniessen» dem Menschen in der Regel halt doch nicht ausreicht.
Das Rentenalter an die Lebenserwartung zu koppeln und zumindest um ein, zwei Jahre zu erhöhen, ist daher keine revolutionäre Idee. Noch mehr dem Wesen des Menschen entsprechen und der Gesellschaft nützen würde zum Beispiel, wenn man im Alter von 65 bis 70 Jahre noch standardmässig 50 Prozent arbeiten müsste. Daneben bliebe immer noch genügend Zeit für das Hüten der Enkel, auf das viele Eltern angewiesen sind. Insgesamt noch hochprozentig für die Gesellschaft nützlich zu sein und einen Teil des Lebensunterhaltes selbst zu verdienen, dabei gleichzeitig geistig und psychisch fit zu bleiben, das sollte doch ein guter Anreiz sein, um unser Rentenmodell zu überarbeiten.
Nicht jeder und jede ist eine der aktuell dringend gesuchten Fachpersonen im Arbeitsmarkt, denen nie gekündigt wird. Wer aber keine Anstellung mehr findet, könnte dazu verpflichtet werden, ab 65 Jahren diese 50 % als Freiwilligenarbeit zu leisten. Als Rotkreuzfahrer, als Begleitung von älteren Senioren zum Arzt, als Gemeinderätin oder als Hilfe für Kindergartenlehrpersonen, die oft nicht genügend Unterstützung finden um eine Klasse ins Turnen oder zu speziellen Anlässen zu begleiten. Denn die Eltern erarbeiten ja gerade das Rentengeld für die Babyboomer oder gehören zu den gesuchten Fachkräften.
Dass ab diesem Jahr die Rente zwischen dem 62. und 70. Altersjahr flexibel und schrittweise bezogen werden kann ist deshalb eine hervorragende erste Anpassung. Gemäss der vorliegenden Renteninitiative würden wir immer noch 20 Prozent unseres gesamten Lebens in Rente verbringen. Das ist beachtlich! Insgesamt verdienen wir Schweizerinnen und Schweizer heute nur während der Hälfte unserer Lebenszeit Lohn. Wobei die Kinder-, Schul- und Ausbildungsjahre keine reine Plauschzeit sind, sondern aus ökonomischer und gesellschaftlicher Sicht schlicht die Vorbereitung aufs Berufsleben.
Weshalb also soll es eine Lebenszeit in guter Gesundheit geben, die mehrheitlich dem Konsum und Selbstverwirklichung gewidmet werden kann? Das ist ein Novum in der Menschheitsgeschichte. Aber weder in jedem Fall gesund, noch finanziell sinnvoll und schon gar nicht fair. Besonders denen gegenüber nicht, die früher sterben.