Ein Land erlebt sein Grounding: Deutsche Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit – das war einmal
So lösen sich nationale Stereotype in Luft auf: Während sich eine Reise mit dem Frecciarossa von Rom nach Neapel auf die Minute genau planen lässt, befindet sich, wer mit dem ICE von Zürich nach Hamburg fahren will, in Gottes Hand. Neu ist das nicht: Verspätungen sind im deutschen Bahnverkehr seit Jahren eher die Regel als die Ausnahme; schuld daran ist jahrzehntelanges Missmanagement bei der Deutschen Bahn.
Nun rollen auch noch Streikwellen über die Bundesrepublik hinweg. Die deutschen Gewerkschaften treten selbstbewusst auf wie lange nicht mehr. Die Gründe dafür sind klar: Während der Coronapandemie haben sich die Arbeitnehmervertreter mit Forderungen zurückgehalten, und nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine frass die höchste Inflation seit 70 Jahren einen erheblichen Teil der Löhne auf.
Gleichzeitig leidet Deutschland unter Arbeitskräftemangel: Geburtsstarke Jahrgänge werden pensioniert, und weltweit umworbene Fachkräfte gehen lieber nach Kanada oder Australien. So fühlen sich deutsche Arbeitnehmer zwar unterbezahlt, aber auch mächtig: Sie werden gebraucht, und das soll sich auf ihrem Lohnkonto niederschlagen.
Am Dienstag legte die Lokführergewerkschaft GDL einmal mehr den Zugverkehr lahm, und am Frankfurter Flughafen sorgte das Kabinenpersonal der Lufthansa dafür, dass kein Flugzeug abhob. Claus Weselsky, der Chef der GDL, ist vielen Deutschen regelrecht verhasst. Lässt seine Gewerkschaft landesweit die Räder stillstehen, werden pro Tag bis zu sieben Millionen Fahrgäste in Mitleidenschaft gezogen. Anders als im Fall einer Autofabrik, deren Bänder nicht mehr laufen, spürt der Konsument die Folgen eines Eisenbahnerstreiks unmittelbar.
Aufgabe eines Gewerkschaftsführers ist es, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Moralisierende Kritik an Weselsky, wie sie aus Medien und Politik ertönt, ist nicht angebracht: Er ist ein Interessenvertreter, dessen Auftraggeber die Mitglieder seiner Gewerkschaft sind. Sich darum zu sorgen, ob die Fahrgäste pünktlich ans Ziel kommen, ist nicht seine Aufgabe – es wäre die der Bahn.
Auch das Argument, Weselsky solle sich zurückhalten, weil er als Chef einer kleinen Gewerkschaft relativ wenige Bahnbeschäftigte vertrete, geht ins Leere: Konkurrenz belebt auch unter Gewerkschaften das Geschäft. Holt Weselskys GDL bessere Abschlüsse heraus als die viermal so grosse Eisenbahnergewerkschaft EVG, nutzt dies den Beschäftigten.
Zur wirksamen Interessenvertretung gehört allerdings auch, mit den eigenen Mitteln so umzugehen, dass man sich ihrer nicht beraubt. Das derzeitige Vorgehen der GDL aber könnte auf längere Sicht zu einer Aushöhlung des Streikrechts führen: Bringen Gewerkschaften breite Bevölkerungsschichten gegen sich auf, könnte sich der Gesetzgeber irgendwann gezwungen sehen, Arbeitskämpfen engere Grenzen zu setzen.
Grossbritannien könnte deutschen Gewerkschaftern als warnendes Beispiel dienen: Auf den «Winter of Discontent» zwischen 1978 und 1979, in dem sich der Müll auf den Strassen türmte und die Toten unbestattet blieben, folgte der Wahlsieg Margaret Thatchers, die den Gewerkschaften Schläge zufügte, von denen sich diese bis heute nicht erholt haben.
Wie sehr die Macht der Arbeitnehmervertreter erodierte, zeigte sich mit einiger Verzögerung, als Tony Blair auf den Plan trat: Zu den Gewerkschaften hielt der neue Chef der Arbeiterpartei demonstrativ Distanz, denn auf dem Weg zur Macht musste er die Mittelschicht in den Vororten gewinnen. Dort galten Gewerkschafter als toxisch.
Von einer solchen Zuspitzung ist Deutschland weit entfernt; das Verständnis für Streikende ist dort noch relativ hoch. Sollten die Gewerkschaften ihr Blatt überreizen, könnte jedoch eine weitere deutsche Besonderheit verloren gehen: der Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital, der dem Land bisher französische Zustände erspart hat.