Das Klima-Fanal
Viel Erfahrung mit wegweisenden Urteilen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz nicht. Wie auch, wenn das Land in Grundrecht-Rankings regelmässig auf den vordersten Plätzen abschneidet. Im öffentlichen Alltag spürbar ist am ehesten noch ein Urteil von 1994, das für Frauen und Männer in der Ehe gleiche Rechte bei der Wahl ihres Nachnamens einräumt.
Alleine deshalb ist das Urteil zu den Klimaseniorinnen ein Fanal: nicht nur für die Schweiz, sondern weltweit. Erstmals erhebt ein internationales Gericht den Klimaschutz zum Menschenrecht. Wer diesen Entscheid als politisch abtut oder die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Schweiz infrage stellt, entwertet letztlich das gesamte Justizsystem und die Menschenrechte.
Fanale haben aber auch die Eigenschaft, dass sie selber wirkungslos sind. Der Prozess der Klimaseniorinnen war ein professionell inszeniertes Medienspektakel, das von Anfang an auf grosse Symbolik setzte. Nur aufgrund des Urteils wird die Schweiz kein Jota an ihrer Klimagesetzgebung ändern. Der Entscheid hat die gleiche politische Kraft wie die Klima-Abkommen, die der Bundesrat in Paris oder Kyoto unterschreibt: Das eine ist ein «Wir-sollten-mehr-Tun», das andere ein «Ihr-hättet-mehr-tun-Sollen».
Solche Feststellungen haben in einer direkten Demokratie nur jenen Wert, den ihnen in letzter Konsequenz die Stimmbevölkerung in konkreten Vorlagen zumisst. Wie das gehen kann, zeigt das Beispiel vom Namensrecht: Offiziell abgeschafft wurde das patriarchale Vorrecht nach dem EGMR-Urteil erst 2013 – und noch immer beschäftigt die Diskussion um Doppelnamen das Parlament. Für den Klimaschutz bietet sich die nächste Gelegenheit schon am 9. Juni, wenn die Schweiz über ein neues Stromgesetz befindet.