«Meine Arbeit ist Kampf»: Naturschützerin bekämpft das Stromgesetz – und stellt sich gegen die Umweltverbände
Es ist eine Touristenattraktion. Hinter dem Grandhotel Giessbach rauscht der Wasserfall über 500 Meter die Felswand herab, hinunter in den Brienzersee. Ein roter Rahmen in Wappenform mit der Prägung «Grand Tour» von Tourismus Schweiz markiert den Punkt für das ideal inszenierte Social-Media-Bild. «Das Ding muss weg», sagt Vera Weber. Sie ist die Präsidentin der Stiftung «Giessbach dem Schweizervolk», welcher das Grandhotel gehört.
Geht es nach ihr, sollen das Waldreservat, die geschützte Parklandschaft und der Blick auf den See nicht zusätzlich vermarktet werden. Für sie liegt hier ein Stück ihrer Kindheit, ein Stück Heimat und eine Verpflichtung gegenüber ihrem Familienerbe: Dem Natur- und Landschaftsschutz.
Die eigene Inszenierung beherrscht Weber perfekt. Entschlossen blickt sie in die Kamera, ein freundliches, kontrolliertes Lächeln.
Luxushotel erhalten und Natur schützen
In einer Villa in Montreux aufgewachsen, wohnt Weber heute in Bern. Aktuell verbringt sie viel Zeit im Grandhotel Giessbach, wo sie das Jubiläumsprogramm ihrer Stiftung vorbereitet. Vor 40 Jahren hatte Vera Webers Vater, der Naturschützer Franz Weber, das baufällige Hotel mit der Kampagne «Giessbach für das Schweizervolk» vor dem Abriss bewahrt, renoviert und ihm als Kulturgut neuen Glanz verschafft. Er rettete ein Stück des aufstrebendem Tourismus der Belle Epoque – Ende 19. Jahrhunderts – im Namen des Schweizervolks. Heute kostet eine Übernachtung während der Hauptsaison zwischen 245 und 340 Franken pro Nacht.
Vera Weber ist mit dem Giessbach aufgewachsen. Als sie neun Jahre alt war, wurde es wiedereröffnet. Sie schloss mit 25 Jahren die Hotelfachschule in Luzern ab. Dann begann sie bei der Fondation Franz Weber zu arbeiten, der Stiftung, die ihre Eltern 1975 gegründet hatten. Ihre Eltern stoppten unter anderem die Baupläne in Surlej bei Silvaplana und jene in den Weinbergen von Lavaux. National bekannt wurde die Stiftung durch den Erfolg der Zweitwohnungsinitiative 2012.
Damals leitete Vera Weber die Kampagne. Die Initiative verlangte einen Baustopp von Zweitwohnungen, wenn eine Gemeinde mehr als 20 Prozent Ferienwohnungen aufweist. Zu sehen, wie die Zweitwohnungsinitiative derzeit speziell im Kanton Graubünden ausgehöhlt werde, sei zermürbend. «Aber wir können nicht überall Polizei spielen», sagt Weber. Jetzt sei es an den Gemeinden ihre Arbeit zu erledigen. 2014 übernahm Weber das Präsidium der Stiftung. Heute arbeitet die 50-jährige am nächsten Coup: Mit einem Referendum bekämpft sie das Stromgesetz, welches am 9. Juni zur Abstimmung kommt.
Nach einem Rundgang durch den Hortensiengarten und über die Hotelterrasse setzt sich Weber in die grosszügige Eingangshalle des Hotels. Einige Gäste entspannen sich an der Bar, Weber ist im Kampfmodus. Sie spricht eindringlich, gestikuliert, gibt so viel Information, wie gefragt wird. «Es gibt nichts Falscheres als die Vorstellung, dass der Mensch die Natur regulieren kann», sagt Weber. «Die Fauna verschiebt sich immer stärker in die Städte, weil wir den Tieren die Lebensräume rauben.» Die Natur sei die Garantin, dass die Menschen überlebten.
Und diese Natur will Weber vor dem neuen Stromgesetz schützen. Mit dem neuen Gesetz sollen die erneuerbaren Energien gefördert werden, um die Stromversorgung zu sichern und die Abhängigkeit von Energieimporten zu verringern. An einem «runden Tisch» haben die Kantone, die Wasserwirtschaft und die Organisationen sechzehn Projekte beschlossen, um Wind-, Wasser- und Solarenergie voranzutreiben. Es ist ein Gesetz, das sogar Umweltverbände wie der WWF, Pro Natura oder Greenpeace befürworten, die in früheren Projekten an Webers Seite standen. Für Weber ist das Gesetz «eine Verschandelung der Natur».
Kämpfen als Stimme der Natur
Was Weber beim Kaffee im Grandhotel zur anstehenden Abstimmung sagt, wird sie später in der «Arena» von SRF wortgetreu wiederholen. Die Umweltverbände hätten «zu viele Kröten geschluckt». Das Gesetz fordere zu viele Kompromisse im Natur- und Landschaftsschutz und sei zugunsten der Energiegewinnung gemacht worden, ohne Güterabwägung. Und da die Natur keine Stimme habe, wehre sich ihre Stiftung in ihrem Namen. Denn: «Mit diesem Gesetz wird der Naturschutz auf dem Altar des Klimas geopfert.»
Dass die Grüne Nationalrätin Florence Brenzikofer (BL) in der «Arena» versichert, das Stromgesetz berücksichtige sowohl das Waldgesetz als auch den Gewässer- und den Naturschutz, tut Weber als «fromme Versprechen» ab. Den Vorwurf, dass Webers Vorstellung von Naturschutz an der Schweizergrenze ende, wenn das Land letztlich Kohlestrom aus Deutschland beziehe, lässt sie nicht gelten. Sie fordert eine Pflicht für Solarpanels auf allen bestehenden Gebäuden. So könne der Strombedarf der Schweiz gedeckt werden. 2019 schätzte das Bundesamt für Energie das Potenzial für Solarstrom in der Schweiz auf rund 67 Terawattstunden pro Jahr – genug, um den Schweizer Stromverbrauch von 2022 zu decken.
Bei dem Referendum unterstützt wird Weber vom Verband Freie Landschaft Schweiz um den Windkraftgegner Elias Vogt und dem Bündnis für Natur und Landschaft Schweiz. Die Zusammenarbeit ist für Weber eine pragmatische – wie immer bei ihrer Arbeit. Allianzen schmieden, Kompromisse eingehen, das tun Politikerinnen und Politiker und nicht Vera Weber. Das bestätigen Umweltpolitikerinnen und Umweltpolitiker wie SP-Nationalrätin Martina Munz und der Grüne Nationalrat Christophe Clivaz. Beide erklären, nie persönlich mit Weber gearbeitet zu haben.
Für die Gegenkampagne rechnet die Fondation Franz Weber mit einem Budget von einer halben Million Franken. 36’000 Gönnerinnen und Gönner und zwölf Mitarbeitende zählt die Stiftung. Die Geschäftsberichte – und damit auch die finanziellen Ressourcen – sind nicht öffentlich. Ihre Gegner sollen ihr nicht in die Karten schauen können, erklärt Weber. Sowieso bedürfte es eines Entscheides des Stiftungsrates und sie fügt an: «Unser Leistungsausweis besagt eigentlich alles.»
Rehe retten am Grab der Vorfahren
Sich selbst bezeichnet Weber als «realistische Optimistin», die sich freundlich, ernsthaft und unerschrocken für ihre Interessen einsetzt. Eine Kämpferin? «Meine Arbeit ist Kampf, aber ich muss es deswegen nicht als solchen bezeichnen.»
Dass sich die Stiftung auch für kleinere Projekte wie zum Beispiel die Rehe auf dem Friedhof Hörnli in Basel einsetzt, erklärt Weber damit, dass auf dem Hörnli Verwandte von ihr begraben liegen. «Ich konnte nicht zusehen, wie auf dem Grab meiner Vorfahren Rehe geschossen werden», sagt sie. Die Regierung gab den Abschussbefehl. Die Fondation Franz Weber reichte Rekurs dagegen ein und organisierte die Umsiedlung der Rehe in den Kanton Jura.
Die Kritik, dass ihr Verständnis von Umwelt unrealistisch und veraltet sei, da es eine strikte Trennung von Mensch und Natur vorsehe und die unberührte Natur romantisiere, bestreitet die Naturschützerin. Die Idee von Naturreservaten ihres Vaters aus der Gründungszeit der Stiftung sei aktueller denn je. Auf den heutigen Klimadiskurs angesprochen, zeigt sich Weber verärgert. Den Anspruch nach Kontrolle und Nutzen von Natur als Ressource sind ihr ebenso zuwider, wie ihre Betrachtung als mess- und steuerbare Ökosysteme.
Vor dem Giessbach lässt Weber den Blick über die Hotelanlage schweifen und sagt: «Würde an einem solchen Ort heute ein Hotel gebaut werden, würden wir Einsprache erheben.» Die Naturschützerin will ein kleines Stück Belle Epoque erhalten. Das Giessbach mit Alpenblick, das hoch über dem See thront, erscheint dabei wie eine kleine, ideale Welt für sich.