Beim Vertreten von unterschiedlichen Meinungen gibt es falsche und echte Toleranz
Achtet man auf Verlautbarungen von Politik, Unternehmen oder Medien, könnte man meinen, dass wir im Zeitalter der Toleranz lebten. Alle geben vor, sich für Andersdenkende und Anderslebende einzusetzen. Zugleich erleben wir in öffentlichen Diskussionen eine Intoleranz neuen Ausmasses – Andersmeinende werden nicht nur nicht gehört, sie werden leidenschaftlich geschmäht, gebannt und geächtet.
Was geschieht da genau? Alles Verstehen beginnt mit dem Unterscheiden.
Es gibt einerseits die Toleranz der bekennenden Intoleranten – denken wir dabei an Vertreter aller Arten des Fundamentalismus, also an Extremisten religiöser, politischer oder ideologischer Art. Die Intoleranten sind demnach jene Chauvinisten und Reaktionäre, die auf strikte Homogenität des Denkens, Verhaltens und Lebens bedacht sind. Sie verkehren nur unter ihresgleichen, bewegen sich nur in ihren Gemeinden. Die gleichgesinnten Intoleranten sind unter sich solidarisch – also tolerant. Zugleich blicken sie aber auf alle Andersdenkenden herab und würden sie am liebsten verbannen.Wer nicht ist wie sie, hat keinen Anspruch auf Menschlichkeit.
Anderseits gibt es die Intoleranz der angeblichen Toleranten. Damit ist die Unerbittlichkeit jener gemeint, die glauben, sie seien die Träger und Wächter der Aufgeschlossenheit – denken wir an all die Progressiven und Woken, die Gleichgesinnten alles nachsehen, aber gegenüber Andersdenkenden die grösste Unduldsamkeit an den Tag legen. Wer anders denkt als sie, muss gecancelt werden.
Die Strategien des Cancelns sind gut dokumentiert: Die erste Stufe besteht in der Moralisierung des Gegenübers – Du bist ein schlechter Mensch. Die zweite Stufe ist die Pathologisierung – Du bist ein kranker Mensch. Die dritte Stufe ist die Leugnung der Menschlichkeit – Du bist nicht mehr satisfaktionsfähig, Du bist ein Unmensch. Das Ziel des Cancelns ist jeweils der soziale Tod des Gegenübers. Es sind grausame, historisch verbriefte Praktiken, die im digitalen Zeitalter wiederkehren.
Die Toleranz der Intoleranten und die Intoleranz der Toleranten: Die beiden Haltungen haben sich längst angeglichen. Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich, sind ununterscheidbar geworden. Dabei zeigt sich: Sie sind im Grunde dasselbe, einmal von lechts und einmal von rinks, um es in der Diktion Ernst Jandls zu sagen.
Und jetzt? Es lohnt sich, Ordnung in das Durcheinander zu bringen und die Begriffe zu schärfen.
Toleranz war bis in die Aufklärung ein Anliegen, das allein die Religionen und Konfessionen betraf. Implizit hiess das: Tolerant oder intolerant – duldsam oder unduldsam – kann man nur gegenüber Glaubensüberzeugungen sein, nicht gegenüber Menschen. Es handelt sich um eine intellektuelle Einstellung. Dabei macht es in der Tat kaum Sinn zu sagen, man sei intolerant gegenüber Menschen – man ist es vielmehr gegenüber Ansichten oder Lebensweisen, die Menschen vertreten. Das wäre eine erste Präzisierung, die mehr Klarheit in die Debatte bringt.
Ich komme zu einer zweiten Präzisierung: Man kann nur tolerant gegenüber Ansichten oder Überzeugungen sein, die man nicht teilt. Es gibt keine Toleranz gegenüber gleichen Gesinnungen. Toleranz setzt den Dissens voraus. Deshalb ist es nicht widersprüchlich zu sagen, dass man Ansichten, die man toleriert, zugleich bekämpft – es ist die Essenz einer toleranten Haltung.
Dies aber impliziert wiederum etwas Weiteres – und das wäre die dritte Präzisierung: Man verhält sich reflektiert zu sich selbst. Man vertritt eine Überzeugung, an die man ernsthaft glaubt, mit aller menschenmöglichen Kraft. Aber man weiss zugleich: Man könnte sich täuschen.Man bewahrt einen Restzweifel.
Es ist das Argument, das auch der Aufklärer Voltaire vorbringt: Nur Gott ist unfehlbar und kennt die Wahrheit – der Mensch hingegen ist beschränkt und fehlbar und sucht nach der Wahrheit, ohne sie zu besitzen. Aus dieser vernünftigen Überlegung – Gott unfehlbar, der Mensch fehlbar – kann nach Voltaire nur eins folgen: Toleranz gegenüber den Glaubenssätzen anderer, auch den einfältigsten Glaubenssätzen – und Respekt gegenüber denen, die sie vertreten, so idiotisch ihre Überzeugungen auch sein oder anmuten mögen.
Das heisst: Wer tolerant ist, hat verinnerlicht, dass er falsch und der andere richtig liegen könnte – im Extremfall. Zugleich fürchtet er sich nicht vor der Meinung anderer, weil er weiss: Um sich der eigenen Überzeugung zu versichern, bedarf es der anderen, die sie herausfordern. Nur so kann sie sich bewähren.
Daraus folgt aber zugleich etwas Letztes – auf diese vierte Präzisierung hat der Philosoph Karl Popper hingewiesen: Toleranz auf einer höheren Ebene gegenüber allen anderen Toleranten, die zwischen Menschen und Meinungen unterscheiden, auch wenn deren Meinungen nerven oder schmerzen. Und Intoleranz gegenüber den Intoleranten, die andere Meinungen verbieten oder Andersdenkende zu Unmenschen erklären, also aus der demokratischen Diskussion ausschliessen wollen. Hier braucht es Zivilcourage, und es scheint, als müssten wir sie erst wieder erlernen.
Popper im O-Ton, und die Worte hallen lange nach: «Wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranten zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.» Das wäre in der Tat der schlimmstmögliche Ausgang. Das Ende der Öffentlichkeit. Und auch das Ende der Menschlichkeit.