Die Neutralität ist der Triumphbogen nach Schweizer Art
Die Neutralität bleibt das Grundgerüst, auf dem die Schweizer Aussenpolitik ruht. Es erweist sich als wetterfest: Die Zeit konnte es nicht abnutzen und ebenso wenig die durchaus rationalen Argumente, wonach die Neutralität obsolet geworden sei. Die neutrale Schweiz ist eine reiche Schweiz. Reich, weil neutral? Nun, die Neutralität hat jedenfalls ihren Reichtum nicht behindert.
Für den Historiker Thomas Maissen wurde die Neutralität im 17. Jahrhundert etabliert – als Folge der Niederlage der reformierten Kantone gegen die katholischen Kantone in der Schlacht bei Kappel im Jahr 1531. Die Eidgenossen, gespalten durch ihre Religionen, entschieden sich, die Gewalt ihrer religiösen Überzeugungen zu mässigen, um ihr Bündnis zu retten.
Während des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648) setzten sich die Anhänger, welche die Ruhe bewahren wollten, erneut gegen die Verfechter des konfessionellen «gerechten Krieges» durch. Da die Schweiz von den monströsen Verwüstungen des Konflikts verschont blieb, erlangte die Neutralität einen positiven Wert, obwohl sie einst eine rein taktische Entscheidung war. Im Jahr 1815 fügte ihr die Anerkennung durch die Grossmächte eine internationale Funktion hinzu: Nun galt sie auch als «nützlich» für den europäischen Frieden.
Aus dieser historischen Skizze ergibt sich die Kraft der Weitergabe von Generation zu Generation – hin zu einer Haltung, die ihre Vorteile bewiesen hat: Sicherheit und Wohlstand. Warum siegte das Gebot der Einheit und damit die Neutralität der dreizehn rivalisierenden Kantone über die starke Zentrifugalkraft religiöser und kultureller Zugehörigkeiten? Das wirtschaftliche Interesse? Die Abneigung gegenüber den Nachbarregimen? Eine Vorstellung von sich selbst, Schweizer zu sein, die jeder anderen Loyalität überlegen ist?
Die Neutralität ist unser «Arc de Triomphe»
Die Rationalität der schweizerischen Wahl ist nur durch einen schweizerischen Geist verständlich – einen Geist des Erbens. Er tritt als Sieger aus der historischen Strategie des Staates hervor. Es ist einfach und kostengünstig, sich ihm anzuschliessen. Die Neutralität ist unser «Arc de Triomphe», unser Triumphbogen.
Die europäische Aufstellung des 19. und 20. Jahrhunderts bot Gelegenheit zur internationalen rechtlichen Ausarbeitung des Kriegsrechts. In diesem Rahmen wurde die Anerkennung des Rechts, keinen Krieg zu führen, in den Haager Konventionen von 1907 verankert.
So legitimiert in ihrem Recht auf Neutralität, suchte die Schweiz, ihre Nützlichkeit durch eine Vielzahl von humanitären und diplomatischen Dienstleistungen zu demonstrieren, sodass die Neutralität im nationalen Bewusstsein mit starken moralischen Werten geschmückt wurde.
Veränderte Moral
Aber in der Zwischenzeit hat sich die Moral geändert. Durch die Unterscheidung zwischen Angreifern und Opfern hat die Charta der Vereinten Nationen das Haager Abkommen ausser Kraft gesetzt, das keinen Unterschied machte. Auch die Art der Konflikte hat sich heute vollständig verändert.
Die Ächtung des Krieges durch die internationalen Organisationen des 20. Jahrhunderts hat zu einer Logik der Anklage gegen die «Kriegstreiber» und damit zu ihrer Bestrafung geführt. Wirtschaftssanktionen sind als Ersatz für die potenziell katastrophale militärische Antwort in das diplomatische Arsenal eingezogen. Ausgelöst durch Instanzen ausserhalb der Schweiz, stellt das wirtschaftliche Mittel die Vorstellung der Schweizer über ihre Souveränität auf den Kopf.
Das ideologisch enge Paar aus Neutralität und Souveränität wird in seinen Grundfesten gestört: Ein Teil der Unabhängigkeit muss geopfert werden, um an der kollektiven Bestrafung teilzuhaben – das ist der Preis dafür, dass Neutralität in den Augen der Nichtneutralen akzeptabel ist.
Die kriegerischen Fiktionen multiplizieren sich. Die schweizerische, friedliche Fiktion sucht in diesem Lärm einen vertretbaren Platz. Die Angst scheint sie nicht zu erreichen. Aber wer kann bei den geopolitischen und technologischen Bedingungen von heute sagen, was die Angst aus der unabhängigen und neutralen Schweiz machen könnte?