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Fremdplatzierte Kinder leiden ein Leben lang: Grosse Studie zeigt, wie sich das Sozialwesen verändern muss

Ein vom Bundesrat in Auftrag gegebenes Forschungsprogramm zu «Fürsorge und Zwang» ist nach fünf Jahren abgeschlossen. Die 150 Forschenden zeigen auf, wie sich insbesondere die Kesb verbessern soll.

Wir alle kennen sie: die Geschichten von Kindern, die auf Bauernhöfen verdingt wurden, von ledigen Müttern, die ihre Babys unter Druck zur Adoption freigeben mussten, von Menschen, die aufgrund ihrer normabweichenden Lebensweisen in Psychiatrien gesteckt wurden, und von Jugendlichen, die man in Heimen misshandelt, missbraucht und ausgebeutet hat.

Wer in der Schweiz in Not gerät, dem wird geholfen. Der Kindes- und Erwachsenenschutz, die Sozialhilfe, die Opferberatung und weitere Stellen unterstützen vulnerable Menschen. Doch der Schweizer Sozialstaat trägt ein dunkles Erbe mit sich.

Im 20. Jahrhundert haben schweizerische Sozialinstitutionen mindestens 60’000 Menschen ausgegrenzt und weggesperrt. Sie wurden im Namen der Fürsorge ohne Gerichtsurteile «administrativ versorgt». Dass wir heute wissen, was damals passiert ist, geht auf das Engagement von Betroffenen zurück, die sich ab den Nullerjahren Gehör zu verschaffen versuchten. Was ihnen widerfahren ist, war zwar schon Jahrzehnte her. Aber sie wollten Anerkennung für das Leid, das ihnen der Staat und die Gesellschaft zugefügt hatten.

2013 dann der erste Erfolg: Die damalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga entschuldigte sich öffentlich bei den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Sie sprach ihnen pro Person einen Solidaritätsbetrag von 25’000 Franken zu. Ein Jahr später beschloss der Bundesrat, das Geschehene aufzuarbeiten. Er beauftragte eine unabhängige Expertenkommission, die 2019 ihren Bericht vorlegte mit dem Titel: «Organisierte Willkür».

Neue Studie beleuchtet heutiges Sozialwesen

In der Zwischenzeit hatte der Bundesrat den Nationalfonds mit einer weiteren Untersuchung beauftragt, dem Nationalen Forschungsprogramm 76 «Fürsorge und Zwang». 150 Forschende verschiedener Disziplinen analysierten in 29 Projekten die Ursachen von schädlicher Fürsorgepraxis, wie sie sich auf die betroffenen Personen auswirkt und wie sie verbessert werden kann. 18 Millionen Franken hat das Programm gekostet. Nun sind die Ergebnisse da.

Die Leitungsgruppe stellte am Donnerstag zwei der Projekte vor. Im einen wurde der Kindes- und Elternschutz untersucht. Im anderen wurden die Menschen befragt, die als Säuglinge in Heimen platziert wurden.

Fazit 1: Das Sozialwesen hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren zwar modernisiert, für die Betroffenen sind Selbstbestimmung, Transparenz und Rechtssicherheit aber oft nicht gegeben. Fazit 2: Behördliche Eingriffe können lebenslänglich negative Auswirkungen haben.

Fremdplatzierte Babys sterben als Erwachsene früher

Das Sozialwesen ist komplex. Die kantonalen Zuständigkeiten der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) und ihre Organisation sind für Betroffene intransparent, kommen die Forschenden zum Schluss. Die Betroffenen sollen einfacheren Zugang zu Informationen haben und besser über ihre Rechte und Pflichten aufgeklärt werden. Dies in einer barrierefreien, ihnen verständlichen Sprache. Sie sollen eigene Vorstellungen darüber entwickeln, was ihnen helfen könnte. Damit die Kesb die individuellen Anliegen der Betroffenen stärker berücksichtigen kann, schlagen die Forschenden vor, sie auf Bundesebene zu harmonisieren.

Dass Behörden behutsam vorgehen, ist wichtig. Denn wie die Forschenden nachweisen, können behördliche Interventionen weitreichende Folgen haben. Menschen, die Ende der 1950er-Jahre als Säuglinge fremdplatziert wurden, weisen bis spät ins Erwachsenenalter gesundheitliche Probleme und eine geringere Lebenserwartung auf als Kinder, die zuhause aufwuchsen. Sie entwickeln sich langsamer als ihre Altersgenossen, sowohl kognitiv und motorisch als auch sozial und emotional. Sie haben auch die schlechteren Bildungs- und Berufschancen. Darüber hinaus wirken sich behördliche Eingriffe auch auf die Nachkommen der Betroffenen aus. Sie geben unwissentlich ihre traumatischen Erfahrungen weiter.

Aus diesen und weiteren Ergebnissen filtern die Forschenden zehn Impulse, die sie in drei Kategorien aufteilen:

Das Wohl der Betroffenen muss im Zentrum stehen: Die Rechte der Betroffenen sollen gestärkt werden und sie sollen mitwirken dürfen. Ihr individueller Bedarf soll im Zentrum stehen und sie sollen einfacheren Zugang zu Informationen haben. Jugendliche sollen im Übergang ins Erwachsenenleben unterstützt werden.

Besserer Kindes- und Erwachsenenschutz ist nötig: Die Rechtsgleichheit der Betroffenen soll garantiert sein und sie sollen in ihrer Selbstbestimmung gefördert werden. Im Sozialsystem sollen finanzielle Anreize richtig gesetzt, Normen hinterfragt und die Professionalität gestärkt werden.

Anerkennung istwichtig und die Aufarbeitung muss weitergehen: Der Staat soll die Betroffenen unentgeltlich und gezielt unterstützen und die Forschung fortsetzen.

Für besonders wichtig halten die Forschenden, dass die Mitarbeitenden in den sozialen Institutionen ihre Haltungen und die Auswirkungen ihrer Tätigkeit reflektieren. Gerade in der Psychiatrie oder der Behindertenhilfe: Wem einmal eine Diagnose anhaftet, wird sie nicht mehr los.

Bundesrat reagiert noch nicht auf die Befunde

Für all das, ist den Forschenden bewusst, braucht es Zeit, Geld und Wissen. Nach fünfjähriger Forschungsarbeit spielen sie den Ball nun zurück an die Politik und die Behörden.

Noch ist unklar, inwiefern der Bundesrat oder die kantonalen Sozialämter auf die Forschungsergebnisse eingehen und welche Taten sie ihnen folgen lassen werden. Sowohl das Bundesamt für Justiz als auch die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren lehnen auf Anfrage dieser Zeitung eine Stellungnahme ab. Das Bundesamt für Justiz lässt ausrichten, der Bundesrat werde «zu gegebener Zeit» entscheiden.