Dynamische Rechtsübernahme – was bedeutet das?
Nach Abschluss der Sondierungsgespräche zwischen den Delegationen der Schweiz und der EU wurde ein gemeinsames Dokument erstellt, das die wesentlichen Resultate festhält. In diesem «Common Understanding» ist unter anderem eine «dynamische» Rechtsübernahme vorgesehen. Der Begriff schlug in den Medien hohe Wellen und wird oft missverstanden. Er bedeutet insbesondere nicht, dass das Recht der EU automatisch auch in der Schweiz gilt.
Das Ziel der neuen Regelung ist zwar, dass sich das schweizerische Recht möglichst rasch und vollständig den Änderungen des EU-Rechts anpasst. Insoweit ist die Übernahme «dynamisch». Diese hat aber nicht zur Folge, dass jene Änderungen ohne weiteres auch für das schweizerische Recht gelten. Die Übernahme liegt nicht nur im Interesse der EU, sondern auch in dem der Schweiz. Wir passen schon seit langer Zeit unser Recht demjenigen der EU «autonom» an, das heisst im eigenen Interesse und ohne dass wir dazu verpflichtet sind. Damit soll den schweizerischen Unternehmen der Zugang zum EU-Binnenmarkt erleichtert werden.
Heute ist die Übernahme «statisch», das heisst, es kommt nur dann zu Anpassungen eines bestehenden Vertrags an neues EU-Recht, wenn die Schweiz oder die EU das vorschlagen und die andere Seite damit einverstanden ist. Bestehende Verträge können deshalb «veralten» und sind mit der Zeit ganz oder teilweise nicht mehr anwendbar. Das gilt etwa für das wichtige Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen, mit welchem technische Handelshemmnisse beseitigt werden.
Der Übergang von der «statischen» zur «dynamischen» Rechtsübernahme würde für die Schweiz bedeuten, dass sie grundsätzlich verpflichtet ist, neues Recht der EU in das schweizerische Recht zu überführen. Das gilt natürlich nur, soweit es die bilateralen Verträge betrifft, also für einen relativ kleinen Teil des EU-Rechts. Zudem – das ist für das Verständnis der dynamischen Übernahme ganz wichtig – würde das schweizerische Recht nicht automatisch, sondern in dem von der Bundesverfassung vorgesehenen Verfahren geändert.
Zuständig für den Erlass der Vorschriften, die aus dem EU-Recht übernommenen werden sollen, wären somit dieselben Behörden, die das entsprechende schweizerische Recht beschliessen, also im Bund für Verordnungen der Bundesrat, für Gesetze die Bundesversammlung und allenfalls (nach Zustandekommen eines Referendums) das Volk. Für Verfassungsänderungen wären es die Bundesversammlung und obligatorisch das Volk sowie die Kantone (Ständemehr). Der Entscheidungsprozess würde in gleicher Weise ablaufen wie in jedem anderen Gesetzgebungsverfahren. Die demokratischen Rechte des Volkes – Initiative und Referendum – würden nicht beschnitten.
Was würde passieren, wenn eine Übernahme von EU-Recht vom Bundesrat, von der Bundesversammlung, vom Volk oder von den Kantonen abgelehnt würde? Das schweizerische Recht würde nicht geändert; es bliebe beim bisherigen Rechtszustand. Die EU-Kommission könnte dann aber Ausgleichsmassnahmen anordnen, etwa einzelne Bestimmungen in Abkommen suspendieren und finanzielle Kompensationen fordern, Zölle erheben oder Importe begrenzen. Solche Massnahmen, die wir als «Nadelstiche» bezeichnen, kennen wir heute schon, etwa den Ausschluss vom Forschungsprogramm Horizon Europe. Die Ausgleichsmassnahmen müssten jedoch verhältnismässig sein. Die Schweiz könnte durch ein Schiedsgericht überprüfen lassen, ob das zutrifft oder nicht.
Es dürfte jedoch selten zu derartigen Situationen kommen. Die Schweiz soll nämlich das Recht erhalten, bei der Ausarbeitung der neuen EU-Rechtsnormen (neudeutsch: «Decision Shaping») mitzuwirken. Sie hätte zwar kein Stimmrecht, dürfte aber ihre Interessen geltend machen und allfällige Einwände vorbringen, die sich aus ihrem besonderen politischen System ergeben. Eine solche Zusammenarbeit in einem frühen Stadium würde einvernehmliche Lösungen wesentlich erleichtern. Wir sollten deshalb in dieser Phase nicht nur möglichst intensiv mit den zuständigen Amtsstellen der EU kooperieren, sondern diesen Prozess auch innenpolitisch begleiten, etwa durch einen Informations- und Meinungsaustausch mit parlamentarischen Kommissionen, Kantonsregierungen, politischen Parteien oder Medien. Damit würde der Entscheid über die Rechtsübernahme demokratisch besser legitimiert, kann doch das EU-Recht nicht geändert, sondern nur insgesamt übernommen oder nicht übernommen werden.
Die Pflicht zur Rechtsübernahme wäre zweifellos eine erhebliche Einschränkung der Entscheidungsfreiheit des schweizerischen Gesetzgebers. Sie hätte aber auch viele Vorteile: Sie brächte mehr Rechtssicherheit für unsere Unternehmen und erlaubte eine Beteiligung an den Vorbereitungen für den Erlass des zu übernehmenden EU-Rechts. Sie würde relativiert durch die Möglichkeit, die Übernahme abzulehnen. Das könnte allerdings Ausgleichsmassnahmen der EU zur Folge haben. Diese Massnahmen müssten verhältnismässig sein, was die Schweiz von einem Schiedsgericht überprüfen lassen könnte, das aus drei oder fünf Mitgliedern besteht, von denen eines oder zwei durch den Bundesrat ernannt werden. Schon heute kann die EU die Schweiz sanktionieren, wenn sie die Anpassung an das EU-Recht ablehnt (und tut dies gelegentlich auch). Es gibt jedoch kein Verfahren, in welchem eine unabhängige Instanz beurteilt, ob die Massnahmen angemessen sind oder nicht. Wir müssen deshalb mehr oder weniger willkürliche «Retourkutschen» akzeptieren.
Will die Schweiz an der Entwicklung des EU-Rechts auf Dauer teilnehmen, so muss sie sich in den bilateralen Verträgen auf den Grundsatz der fortlaufenden, dynamischen Aufdatierung verständigen. Nur dies entspricht dem Interesse der Schweiz und der EU. Beide sind auf eine dynamische Rechtsübernahme angewiesen.