Der «Marshallplan» für die Ukraine nimmt langsam Gestalt an, doch wer die Führung übernehmen soll, bleibt umstritten
Nehmen Politiker das Wort «Marshallplan» in den Mund, ist das meist kein gutes Omen: Marshallpläne für Afrika oder Afghanistan wurden in der Vergangenheit bereits gefordert, geschehen ist jeweils nicht viel. Auch in Bezug auf die Ukraine wird mittlerweile mit dem Begriff aus der Zeit des beginnenden Kalten Krieges operiert:«Einen neuen Marshallplan des 21. Jahrhunderts» streben die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der deutsche Kanzler Olaf Scholz an.
Am Dienstag luden von der Leyen und Scholz zu einer Wiederaufbau-Konferenz nach Berlin ein. Die Chancen, dass aus dem Plan für die Ukraine mehr wird als aus den früher angedachten «Marshallplänen», scheinen gut zu stehen, liegt das osteuropäische Land seinen potenziellen Geldgebern doch in mancherlei Hinsicht näher als Afghanistan.
So werden auch bereits Zahlen genannt, obschon noch nicht absehbar ist, wann der Krieg überhaupt enden wird: Auf rund 350 Milliarden US-Dollar schätzten die Weltbank und die EU-Kommission den Bedarf Anfang September. Im Juli,bei einer ersten Konferenz in Lugano,hatte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal von 750 Milliarden Dollar geredet. Beide Zahlen beziehen sich lediglich auf Schäden, die in den ersten drei Kriegsmonaten entstanden sind; selbst Schmyhals Schätzung könnte sich also noch als eher konservativ erweisen.
Ein «Migrations-Tsunami» sei Teil des russischen Kalküls, sagt Schmyhal
Von der Leyen erklärte am Dienstag, dass die Ukraine im nächsten Jahr etwa drei bis fünf Milliarden Euro pro Monat brauchen könnte. Ein Drittel davon solle die EU übernehmen, ein weiteres die USA und den Rest Institutionen wie der Internationale Währungsfonds.
Mehr als ein Drittel der ukrainischen Energie-Infrastruktur sei bereits zerstört, sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, der per Video nach Berlin zugeschaltet war. Spitäler, Schulen und Verkehrswege müssten wieder aufgebaut werden, doch auch, um die laufenden Ausgaben zu bestreiten, brauche die Ukraine Hilfe. Noch einmal erinnerte Selenski die Europäer daran, dass sein Land auch deren Interessen verteidige. So könne die Ukraine eine Flüchtlingswelle in die EU aufhalten. Ein «Migrations-Tsunami» sei Teil des russischen Kalküls, erklärte Schmyhal.
Eine relativ prominente Rolle auf der Konferenz spielteder Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis.Die Schweiz könne der Ukraine keine Waffen liefern, das lasse die Neutralität nicht zu, sagte er, doch bedeute dies nicht, dass Bern sich gleichgültig verhalte: Die Schweiz stehe fest auf der Seite des Völkerrechts und trete für die territoriale Integrität der Ukraine ein. «Dabei können Sie sich auf uns verlassen», versicherte Cassis.
Auf der Berliner Konferenz stand nicht zuletzt ein Thema im Mittelpunkt: Wer soll den Aufbau leiten? Geht es nach Ursula von der Leyen, werden die EU-Kommission und die ukrainische Regierung die Hilfe gemeinsam koordinieren. Das passt allerdings den Amerikanern nicht, die eine Steuerung durch die G-7-Staaten anstreben. Auch Cassis äusserte sich zu dieser Frage, wenn auch eher vorsichtig: «Die EU ist natürlich gut positioniert», sagte er, doch müssten weitere Staaten und internationale Organisationen eingebunden werden.
Scholz spricht von «Investitionen in ein künftiges EU-Mitglied»
Der Konflikt über Zuständigkeiten wurde in Berlin zumindest vor den Kulissen nur gestreift; amerikanische Regierungsvertreter waren ohnehin nicht anwesend. Sonst wurden allerlei Freundlichkeiten ausgetauscht. So bedankte sich Schmyhal für «das beispiellose Mass der Unterstützung».
Der ukrainische Regierungschef formulierte aber auch weitergehende Ansprüche. Es gelte nun, etwas aufzubauen, «das besser ist als das, was vorher da war, basierend auf den Regeln und Standards Europas». Den Wunsch, der EU beizutreten, der in diesen Worten mitschwang, hatte zuvor schon Selenski geäussert, und auch Scholz erklärte, er betrachte die Ausgaben als «Investitionen in ein künftiges EU-Mitglied».
Welche Konfliktlinien Europa in der Ukraine-Politik durchziehen, deutete der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki an. Polen gebe drei Prozent seines Bruttoinlandprodukts für die Verteidigung aus und werde diesen Anteil noch weiter erhöhen, sagte er.
Dies konnte man ebenso als Kritik an Deutschland und weiteren EU-Ländern begreifen wie Morawieckis Bemerkung, der Zeitpunkt, an dem Europa seine Energiepolitik neu ausrichten müsse, sei nun gekommen. Appeasement sei keine Alternative, sagte der polnische Regierungschef. Er empfinde Genugtuung darüber, dass von der Leyen den Polen in dieser Frage mittlerweile recht gebe, doch freuen könne er sich darüber nicht.